Aus dem Zirkularbrief 1, Mai 2001

Bericht vom Lektürenachmittag am 31. März 2001:

»Zur Verdrängung der Psychoanalyse«

 

Der weniger bekannte, mit großem Schwung formulierte Text »Der Widerspruch des Nationalsozialismus« (1937) des »mittleren« Wilhelm Reich gab den acht TeilnehmerInnen einen Begriff von der historischen Leistung des »Freudomarxismus«: einer Vermittlung von klassischer Psychoanalyse und historischem Materialismus zu einer politischen Sozialpsychologie.

Am konkreten Fall des deutschen Hitlerfaschismus, dem Versuch einer tiefgreifenden Antwort auf die aktuelle Frage »Wie war das Neue am Nationalsozialismus, nämlich der Durchbruch und die Instrumentalisierung einer irrationalen massenfeindlichen Massenbewegung Proletarisierter historisch und psychisch möglich?« – zeigen sich hier psychoanalytische Charakteranalyse und Familien-, Patriarchatskritik noch immer den meisten Faschismusdeutungen überlegen. Zugleich weist der Text von W. Reich eine Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit auf: die Verengung der Psychoanalyse in bloße »Sexualökonomie«, die Verwerfung der Marxschen Theorie aufgrund des historischen Versagens »des Marxismus« gegenüber dem Nationalsozialismus, welche sich als Aufblasen der Reichschen Doktrin zu einer Art biologistischer Kosmogonie späterhin schon andeutet.

In der Diskussion war strittig, inwieweit W. Reich am Schluss der Darstellung nicht selbst in eine (tragische) Nähe zu dem lebensphilosophischen Kult »des Gesunden«, vital-Überschiessenden im NS-Kapitalismus gerät, dessen Widerspruch er allzu optimistisch in der Entfesselung der »Lebensenergien« usw. erblickt, welche das System terroristisch mobilisiert und unterdrücken muss und auf die er, W. R., gerade setzt. Doch steht demgegenüber eine historisch-materialistische Psycho-Analyse immer noch aus, die vom Patriarchat, der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer faschistisch-nationalsozialistischen Barbarei eine plausiblere Erklärung liefern kann, ohne die »naturwissenschaftliche« Methode und Härte der Freudschen Triebtheorie wiederum ganz zu verlieren, ohne die Marxsche Gesellschaftsdialektik auf Soziologie herunterzubringen.

Gerade hier war Otto Fenichel bahnbrechend, dessen von seinem einstigen Freund und Genossen Wilhelm Reich dann divergierende Variante der kommunistisch-revolutionären Psychoanalyse Gegenstand des nächsten Lektürenachmittags sein wird (»Meine Differenzen zu W. Reich« – Geheime Rundbriefe/Manuskript 1934): am Samstag, dem 9. 6. 2001, 14 Uhr (Texte werden bereitgestellt).

Ch

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