Klaus Herrmann

Antimarxismus in der MEGA

aus: Klaus Herrmann: Neubestimmungen zu Akkumulation und Revolution. Fragmente, Reflexionen, Annotationen aus Briefwechseln 2002 - 2013

 

Aus einem Brief vom 6.1.2012 :

… Nach der "Wende" gab es im (Herausgeberteam) von MEGA² (MEW & MEGA Übersicht) die Vereinbarung, künftig auf die Bevorwortung bei der Herausgabe künftiger Bände zu verzichten; nichts zu bieten als die Texte und die Ergebnisse philologischer Arbeit. Gegen diese Übereinkunft ist bei der Herausgabe von Kapital III in der bearbeiteten Druckfassung von Engels von 1894 (MEGA² II/15, Akademie Verlag, Berlin 2004) nicht nur gröblich verstoßen worden; sondern die auf den Seiten 871-910 mitgegebene "Einführung" gibt sich als die Bemühung eines Nicht- und Antimarxisten zu erkennen, die man getrost als Versuch werten kann, das "Gift" Marx hinwegzuneutralisieren. Versteht sich, dass das Ganze mit dem herrschenden Antikommunismus konfirmiert wie mit dem Zeitgeist, der den Wissenschaftsbegriff - vormals bedingungsweise auch den bürgerlichen - höhnt mit seiner Leugnung und Verleugnung des Wahrheitsbegriffs, Inbegriff von Erkenntnis schlechthin. Ich habe auf die Übersendung dieser "Einführung" als Internet-Ausdruck mit einigen Annotationen reagiert und begleitenden Zeilen (17.11.11), aus denen ich besser zitiere als referierend nachzuglätten: bei meiner Schefold-Lektüre habe ich jetzt vor dem letzten Abschnitt abgebrochen, weil ich mir bei diesen Annotationen inzwischen wie ein Don Quichote vorkomme. Dass ein Herausgeberteam der MEGA dieses Zeug zur Imprimatur zugelassen hat, stellt ihm ein vernichtendes Zeugnis aus. Nicht einmal die Maskerade eines Narziss, wie sie die Literatur- und Quellennachweise unter dem Strich verraten, hat abschreckend gewirkt. Aber das konvergiert ja mit dem Kultur- und Kunstbetrieb heute, worin es nur noch um die Verteidigung und Bewahrung privilegierter gesellschaftlicher Positionsvorteile auf Teufel komm raus geht. …

… Eine Schlussbemerkung zu meinen "Annotationen". Ich denke, dass ich mir im Laufe der Zeit, eigentlich eines lebenslänglichen Umgangs mit Marx, ein ziemlich zutreffendes Verständnis des Verwertungs-, Expansions- und Akkumulationsprozesses des Kapitals erarbeitet habe. Das systematisch zu entfalten über die einschlägigen Rezeptionen beim späten Engels, von Lenin und Rosa Luxemburg, im ML, bei Lukács und Korsch, Horkheimer und Adorno, bei Grossmann, Paul Mattick und Rosdolsky (um nur die wichtigsten Stationen zu nennen) bis hin zu einem Zerrspiegel schiefer Panoramen (Althusser, Habermas, R. Kurz, M. Heinrich) wäre eine Riesenaufgabe, kaum zu meistern, wie umrisshaft die Sache auch in meinem Kopf präsent sein mag. Meine Fragmente nehmen sozusagen Resultate vorweg, wie sie im Gange der Durchforschung als selber natürlich immer wieder korrigible mir zufallen. Was daran befremdlich und für ein Verständnis sperrig ist, dürfte freilich hauptsächlich dem Umstand geschuldet sein, dass sie wider Rezeptions- und Interpretationsmuster gebürstet sind, wie sie bis heute umlaufen, vor hundert Jahren oder frisch in die Welt gesetzt …

 

Aus einem Brief vom 17.3.2013 :

… zum Zeichen dass ich am Ball bin jetzt nur vorab die überarbeitete Fassung meiner "Annotationen" zu Schefold … Um die Polemik frei von anderen Inhalten zu halten, habe ich ausgeschieden, was eigentlich dringlicher der Erörterung bedarf: die verschobenen Proportionen zwischen Produktion, Zirkulation, Dienstleistung; der relative Bedeutungsverlust industriekapitalistischer Warenproduktion mit der auf ihr beruhenden Produktion des relativen Mehrwerts. Aber das gehört in die Diskussion unter Marxisten, nicht in die Auseinandersetzung mit einem professoralen bürgerlichen Ideologen. Richte bitte Z. meinen ausdrücklichen Dank für seine berechtigt gewesene kritische Bemerkung aus. Ohne sie und andere Ermunterungen würde es diese Nacharbeit nicht geben. Zu diesen anderen Ermunterungen gehört ein Bericht im "Neuen Deutschland" über ein "Festkolloquium" zum Abschluss von MEGA II in Berlin v. 11.2.13 (Link zum Artikel). Was ist das für ein Völkchen, dem außer Verschwinden in politisch folgenloser Philologie nichts anderes einfällt als neue Ideologieproduktion! Das sollte nicht ohne Antwort bleiben. Die Konzentration auf den von Schefold angezettelten Hauptkontroverspunkt macht die Lektüre etwas schwieriger; ein Nachteil, der in Anbetracht des komplexen Sachgehalts aber in Kauf zu nehmen ist …

 

Annotationen zu Bertram Schefold: "Einführung", beigebunden MEGA² II/15 (871-910, Berlin 2004)

Man kann es nur als einen Skandal bezeichnen, dass einem Band der MEGA, die in ihrer II. Abteilung die Werke von Marx und Engels zum "Kapital" und seinen Vorarbeiten nach Handschriften und Erstdrucken bietet und die dieser Tage abgeschlossen wird, ein Marx-Verriss durch B. Schefold (www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/bilder/mega10.pdf) beigegeben worden ist. Die Rede ist von Band 15 mit dem Reprint von Band III des "Kapital" in der Redaktion von Friedrich Engels von 1894 (vgl. MEW 25). Man geht fehl in der Erwartung, dass diese "Einführung" sich auf die ingeniöse Entzifferungsarbeit der benutzten Handschriften von Marx durch Engels und dessen Redaktionsarbeit bezieht und etwas über die angestrengte Kontroverse im Pro und Contra referiert, ob Engels den grundlegenden Intentionen von Marx Rechnung getragen oder diese verfehlt habe. Tatsächlich geht es darum, alles, was seit Böhm-Bawerk nach Erscheinen des dritten Bandes von Preistheoretikern gegen Marx in Anschlag gebracht worden ist, unter ausdrücklichem Bezug auf diesen und seinen Nachfahren unter dem falschen Etikett einer Wirkungsgeschichte des Bandes, zu rekapitulieren. Also eine Erledigung und Entsorgung von Marx wie sie im Buche steht. Summiert man die Einwendungen Schefolds gegen die Marxsche Theorie, so steht man vor einer Trümmerstätte.

Es hinderte "an analytischen Fortschritten" "das Beharren auf der Wertlehre Marx" (899); "Die Marxsche Werttheorie hat sich als nicht haltbar erwiesen" (910); der Begriff der abstrakten Arbeit beruhe auf keiner verständigen Abstraktion; vollends entbehre Engels einfache Warenwirtschaft des rationellen Moments (898); der "Gewinn" - womit der Profit gemeint ist - lässt sich nicht "als Umverteilung des Mehrwerts auffassen" (892); die Mehrwerttheorie sei "redundant" (896); das Interesse an der Akkumulationstheorie gelte vor allem dem technologischen Aspekt (899); das "Transformationsproblem" habe sich durch die als modern apostrophierte Preistheorie erledigt (875ff.). Für Polemiken und Repliken in Sachen Marx/Engels gibt es wirklich andere Austragungsorte als die MEGA.

Mit verallgemeinernden Formulierungen zur Transformationsfrage knüpfe ich an Argumente von Hans-Peter Büttner an, vorgetragen in der lesenswerten Studie "Marx versus Sraffa. Das 'Transformationsproblem' und die Widersprüche simultaner Wert- Preis-Rechnungen seit Bortkiewicz" ("trend onlinezeitung", 7/8-06). Der Übersprung von der Wesens- zur Erscheinungsebene, vom Wert zum Preis, ist kein begrifflich unilinear zu lösendes Problem, sondern vollzieht sich ständig in der Sphäre von Produktion und Zirkulation des Kapitals. Viel Verwirrung hat die Vorstellung gestiftet, als ob ein methodisches Grundaxiom von Marx - der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten - aus der Transformation des Wertes in den Produktionspreis ein empiristisch zu lösendes Problem gemacht habe. Der Wert der in der Produktion verbrauchten Ware (Kostpreis-Ware) ist aber seinerseits das Produkt eines Kapitals, das selber dem Gesetz der Durchschnittsprofitrate unterworfen ist, was darauf hinausläuft oder bedeutet, dass der Wert als solcher niemals anders denn als Preis in Erscheinung treten kann, egalisiert durch die Ausgleichsbewegungen der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate mit dem auf jeder Produktionsstufe pro tanto individuell zugesetzten Mehrwert. Oder mit den Worten Roman Rosdolskys: die Marxschen "Produktionspreise" sind in Wirklichkeit gar keine "Preise", "sondern nur durch das Dazwischentreten der Durchschnittsprofitrate modifizierte Werte" ("Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen 'Kapital' Band II, 483, 1969). Der diesbezügliche Passus bei Marx ist jetzt auch in MEGA II/4.2, 241f. nachzulesen. Ich habe ihn schon einmal in "Kommunistische Streitpunkte" (K.S. Nr.7, 52) nach MEW 25, 174f. zitiert und daran die Bemerkung angeschlossen: "Also man hat es im Preisbildungsprozess immer schon mit dem in Durchschnittsprofit verwandelten Mehrwert zu tun, die Unterscheidung von Kostpreis und Produktionspreis demgegenüber methodische Abstraktion. Ob Kost- oder Produktionspreis - insoweit Waren Fertigprodukte sind, die von der Rohstoffgewinnung an mit Veräußerung und Kauf verbundene Fertigungsstufen durchlaufen, ist Produktionspreis immer Bildungselement des Kostpreises der nächsthöheren Stufe."

Es ist ein grobes Missverständnis hinter den Kapitalen mittlerer oder Durchschnittszusammensetzung nach ihren Komponenten c und v einen "numéraire" oder das Produkt einer "Standardindustrie" ("Einführung", 890f.) zu vermuten. Weil die Durchschnittsprofitrate ein prozentiger Zuschlag zum neugeschaffenen Wert je Produktionseinheit und Produktionssphäre ist entsprechend der Größe des dabei eingesetzten konstanten und variablen Kapitals, ist sie eine aus Produktion und Zirkulation des Kapitals entspringende variierende Größe und nur von der Wertproduktivität der Kapitale überhaupt abhängig und deshalb nur ex post durch das Produktionsergebnis zu diesem Durchschnitt ausgleichbar. Weshalb es bezüglich des Verhältnisses von Wert zu Preis für Marx keine andere Antwort geben konnte als dass in letzter Instanz Gesamtsumme der Werte gleich Gesamtsumme der Produktionspreise. Die Fragen nach der Transformation gehören im Manuskript von 1864/65 (= dritter Band des "Kapital") einem intellektuellen Suchprozess an. "Die eigentlich schwierige Frage ist hier die: wie diese Ausgleichung der Profite zur allgemeinen Profitrate vorgeht, da sie offenbar ein Resultat ist, und nicht ein Ausgangspunkt sein kann." (MEW 25, 183) Der diesem Satz vorausgehende Abschnitt ist auf der Suche nach einem solchen Ausgangspunkt und nimmt dafür ein voraussetzungsvolles Fallbeispiel an, bei dem Produktionspreis und Wert zusammenfallen. Nämlich "Ausgleichung zwischen den Produktionssphären von verschiedner Zusammensetzung", die "immer dahin streben muss, sie zu egalisieren mit den Sphären von mittlerer Zusammensetzung". Wozu als Voraussetzung nicht nur uneingeschränkte Konkurrenz, wie hier betont (MEW 25, 182), gehört, und wie sie spätestens mit Beginn der imperialistischen Ära durch Monopolpreisbildungen der verschiedensten Art konterkariert wird; volle Mobilität von Kapital und Arbeitskraft, wie sie historisch eher Ausnahme gewesen, sondern auch eine relativ niedrige allgemeine organische Zusammensetzung der Kapitale nach c und v überhaupt, wovon seit den Tagen von Marx keine Rede mehr sein kann. Indirekt wird noch einmal in anderem Zusammenhang in wünschenswerter Deutlichkeit der Leistung des Durchschnittprofits gedacht. Es "wäre ein Kapitalist, der in seiner Produktionssphäre gar kein variables Kapital und darum gar keine Arbeiter anwendete (was in der Tat übertriebne Unterstellung) ganz ebensosehr an der Exploitation der Arbeiterklasse durch das Kapital interessiert, und leitete ganz ebensosehr seinen Profit von unbezahlter Mehrarbeit ab, wie etwa ein Kapitalist, der (wieder übertriebne Voraussetzung) nur variables Kapital anwendete, also sein ganzes Kapital in Arbeitslohn auslegte" (MEW 25, 207).

Es ist wohl einer Überdosis Sraffa zuzuschreiben, dass in dieser "Einführung" auf Schritt und Tritt gegen Sinn und Buchstaben der Texte von Marx verstoßen wird. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf - dass das Kapitalverhältnis ein konstitutives Ausbeutungsverhältnis ist für Mensch und Natur - wird lieber mit einem "Kornmodell" Natur mythisiert. "Die Arbeit wird durch das Korn nur ernährt, dank seiner können sich die Arbeiter am Leben erhalten, und die Vervielfachung des Korn verdankt sich der natürlichen Fruchtbarkeit." (881) Als ob Korn nicht bearbeitete Natur als Resultat der Züchtung von Generationen und es ohne Pflege, Düngung etc., sehr schnell damit zu Ende wäre, dass das Korn die Arbeit ernährt. Aber was solls? Dafür, dass es keinen "Vorrang der Arbeit bei der Erschaffung der Werte" gibt, tut das Kornmodell seinen Dienst.

Konstantes Kapital meint in der Sprache von Marx nicht mal dies und mal das - eine Behauptung, die auch durch Berufung auf Joan Robinson nicht richtiger wird: der Begriff "konstantes Kapital" meine die Summe des jährlichen Verzehrs vom Gesamtkapitalbestand, "aber der von Marx bezeichnete Zusammenhang verlangt zuweilen, sich an den Bestand des Gesamtkapitals zu halten" (878). C, das Gesamtkapital, ist immer die Summe aus c,v und m; als Wertausdruck fixes und zirkulierendes Kapital, die in einer Produktionsperiode X verbraucht werden und ersetzt werden müssen, Arbeitslohn und der Teil des neugeschaffenen Wertprodukts m, der dem Konsum der Kapitaleigner zufällt und/bzw. der Akkumulation dient. Nach ihrer technischen Zusammensetzung heißen die Komponenten c und v Maschinerie und Arbeitskraft. Es ist wohl kein Begriff weniger tauglich als der der organischen Zusammensetzung des Kapitals, auf eine Messlatte Preis bezogen zu werden (899). Kapital akkumuliert durch Zuschlag von Neuwert zu einem gegebenen Kapital, welcher als solcher auf dem Markt über den Preis realisiert werden muss, weshalb damit nicht der ex ante produzierte Wert zusammenfallen kann. In der Nacht, wo Wert gleich Preis, sind alle Katzen grau. So meint der Verfasser mit J. Robinson Marx darüber belehren zu müssen, dass wachsende "Masse" der Kapitalgüter "nicht notwendig auf den Kapitalwert durchschlägt". Oder phantasiert zum Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate eine konstante Mehrwertrate hinzu (ebd.). Gerade so als hätte Marx nicht Beziehungsverhältnisse thematisiert mit Begriffen, die sich nicht dazu eignen wie Kupons nach gusto hin- und hergeschoben zu werden. Aber Schluss davon. Man kann nur hoffen, dass die jetzt weltweit gelesenen authentischen Texte von Marx und Engels nach MEGA² unter Missachtung peinlicher Beigaben rezipiert werden.

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