Referat (mit Ergänzungen) zur Einleitung des Althusser-Seminars am 17. März und 2. Juni 2001  {zum Ankündigungs-Text →/zum Seminar-Bericht →}

Henning Böke (Frankfurt)

Wie funktioniert Althusser?
Eine Marx-Rezeption jenseits von ›Orthodoxie‹ und ›Revisionismus‹

zum SeitenendenaechsterAbschnitt

 

… es genügt nicht, die Worte einer Theorie zu buchstabieren, man muss auch beobachten, wie sie funktioniert …, was sie verweigert und was sie erlaubt.

Louis Althusser

Was bei den Dingen, die die Menschen sagen, zählt, ist nicht so sehr das, was sie diesseits oder jenseits dieser Worte gedacht haben mögen, sondern das, was sie von vornherein systematisiert, was sie für die Zukunft immer wieder neuen Diskursen und möglichen Transformationen aussetzt.

Michel Foucault

 

Von den Lebensdaten her, geboren 1918 als Sohn eines Kolonialbeamten in Algerien, gestorben 1990 in Paris, ist Louis Althusser wohl der letzte marxistische Philosoph von Weltrang; gewiss ist er auch der umstrittenste, an dem sich wie an keinem anderen die Geister schieden. Starke Resonanz fand Althusser außer in Frankreich und Italien vor allem in Lateinamerika; in beiden deutschen Staaten sorgte indes eine seltsame große Koalition von den kommunistischen Parteiorthodoxien bis zur Frankfurter Schule für eine durchgreifende Verdrängung und Verbannung Althussers aus der marxistischen Diskussion.

Die Leidenschaft, mit der Althusser Stellung bezog, erklärt sich sicher aus der unmittelbaren existenziellen Bedeutung, die theoretische Fragen für ihn hatten. Streng katholisch erzogen, in seiner Studienzeit in nationalistischen und monarchistischen Gruppen aktiv, erlebte Althusser die erste große Erschütterung seines Weltbilds in fünf Jahren deutscher Kriegsgefangenschaft; in dieser Zeit liegen die Ursprünge seiner depressiven Erkrankung, die in eine biografische Tragödie einmünden sollte. Nach Paris zurückgekehrt, engagierte er sich zunächst in linkskatholischen Zirkeln und wurde schließlich unter dem Einfluss seiner späteren Frau Hélène Rytman, einer wegen Kritik am Hitler-Stalin-Pakt aus der Partei ausgeschlossenen jüdischen Kommunistin, Marxist; 1948 wurde er Philosophielehrer an der école Normale Supérieure und trat in die Kommunistische Partei ein, deren Mitglied er zeitlebens trotz aller Anfeindungen blieb. In die Schlagzeilen geriet er, als er Hélène 1980 in manisch-depressiver Umnachtung tötete. Vom Gericht als »non-lieu«, ortlos, schuldunfähig, kein verantwortliches »Subjekt« im Sinne des französischen Strafrechts befunden und dadurch der Möglichkeit einer öffentlichen Erklärung in einem Prozess beraubt, schrieb er eine Autobiografie, deren posthumes Erscheinen ihn der Öffentlichkeit in Erinnerung rief. Meines Erachtens gibt es triftige Gründe, sich wieder mit seinen theoretischen Arbeiten zu beschäftigen.

zum Seitenanfangzum SeitenendenaechsterAbschnitt

I.

In vertrauteren Kreisen sagte Althusser öfters, seine philosophischen Thesen seien in erster Linie »Provokation« gewesen. Abseits von dem understatement dieser Selbsteinschätzung trifft auf jeden Fall zu, dass Althusser sich intuitiv immer an der leninschen Metapher von der Wahrheit als »gebogener Stab« orientierte, den man in die entgegengesetzte Richtung biegen muss, um ihn zu begradigen. Althussers Denken war immer ein Denken in »Konjunkturen«, das theoretische Wahrheit nicht als statische Größe jenseits der gegebenen ideologischen Kräfteverhältnisse auffasste, sondern gezielt in diese Kräfteverhältnisse eingriff.

Der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion setzte 1956 eine Bewegung in Gang, die den verkrusteten Dogmatismus der Stalinära, der vor allem auch die stolze französische Partei befallen hatte, aufzubrechen begann. Zuvor waren wissenschaftliche Fragen immer als Fragen der klassenmäßigen Parteilichkeit behandelt worden, die folglich von Parteifunktionären entschieden wurden. Immerhin hatte bereits Stalin selbst in seinen letzten Schriften einen Kurswechsel gegen derartige »ultralinke«, politizistische Richtungen eingeleitet. Nach dem XX. Parteitag indes setzte unter marxistischen Intellektuellen eine Tendenz ein, das Denken von Marx in Kontinuität zum bürgerlichen Humanismus zu interpretieren. Man entdeckte die marxschen Frühschriften mit ihrer an Feuerbach anknüpfenden Philosophie »des Menschen« oder »der Praxis« und glaubte, die Kritik der »Entfremdung des Menschen von sich selbst« im Kapital wieder zu finden. Althussers Interventionen beginnen mit einer doppelten Frontstellung sowohl gegen den stalinistischen Dogmatismus als auch gegen die in der Tendenz »revisionistischen« Aufweichungen des marxistischen Denkens in Richtung auf einen theoretischen Humanismus, der die Geschichte mit ihren Klassenkämpfen als eine Geschichte der Entfremdung und schließlichen Wiedergewinnung des »menschlichen Gattungswesens« oder dergleichen deutete.

In der damaligen Diskussion um den Begriff der Dialektik und das Verhältnis von Marx zu Hegel und den Junghegelianern wies Althusser zunächst einmal darauf hin, dass Marx, wenn er von sich selbst behauptet, eine materialistische »Umstülpung« der hegelschen Dialektik vollzogen zu haben, eine Metapher gebraucht, die keineswegs stimmig ist. Denn Hegel selbst beschreibt sein dialektisches Denken als einen »Kreis von Kreisen« – einen Kreis aber kann man nicht »umstülpen«.

Hegel fasst die Geschichte als Entfaltung begrifflicher Prinzipien in ihrer dialektischen Selbstbewegung auf. Wenn Marx dagegen die Geschichte als eine der materiellen Praxis und materieller Kämpfe begreift, dann stellt sich die Frage, wie diese Praxis aufzuschlüsseln ist; dabei ist das, was Marx selbst über seine Vorgehensweise sagt, nicht notwendig mit dem identisch, was er in seiner »theoretischen Praxis«, in der Ausarbeitung von Begriffen tatsächlich tut. Althusser stützt sich hier auf die epistémologie, die historische Wissenschaftstheorie von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, um die Entdeckung des »Kontinents Geschichte« durch Marx als eine »theoretische Revolution«, eine »Entdeckung ohne Vorläufer« zu interpretieren.

Schon bevor es Mathematik gab, konnten die Menschen rechnen, aber Thales hat die Mathematik als Wissenschaft begründet, indem er das Verfahren der Konstruktion geometrischer Objekte entwickelte. Die Existenz von Naturgesetzen war in Form von praktischen Erfahrungswerten bekannt, aber Galilei hat die Physik als Wissenschaft begründet, indem er aus der Erklärung von Naturvorgängen die Teleologie, die Annahme, sie seien auf Zwecke angelegt, ausschloss. Die Existenz eines Unbewussten, das sich in Träumen zu Wort meldet, war immer bekannt, aber Freud hat das Unbewusste als Gegenstand einer Wissenschaft erschlossen, indem er es aus seinen Symptomen konstruierte.

Marx hat, so Althusser, der Wissenschaft den »Kontinent Geschichte« erschlossen, indem er eine theoretische Konzeptualisierung der Geschichte lieferte, die mit Sinndeutungen wie etwa der hegelschen Geschichtsphilosophie bricht. Wenn eine neue Wissenschaft entsteht, kann sie nicht von Anbeginn das richtige Verständnis von sich selbst haben: sie muss, um bislang Ungedachtes zu denken, sich »geborgter Begriffe« bedienen. Bei Marx waren das Begriffe von Hegel, die er sozusagen als Eselsbrücken verwenden musste. Eine reale materialistische Geschichtsanalyse kann sich aber nicht auf hegelsche Begriffe stützen. Am Beispiel der leninschen Imperialismustheorie, die »ungleichzeitige« und »kombinierte« Entwicklungen verfolgt, zeigt Althusser, dass eine materialistische Analyse die Gesellschaft nicht als »Totalität« im hegelschen Sinne auffassen kann, in der alles, was geschieht, Vermittlung eines einfachen inneren Grundprinzips ist, möge man es nun die »Ökonomie« oder die »Produktion des materiellen Lebens« oder wie auch immer nennen – es genügt nicht, »idealistische« Begriffe durch »materialistische« zu ersetzen, sondern entscheidend ist die Struktur des Zusammenhangs der Begriffe und dessen Funktionsweise. Hierfür adäquate Begriffe zu finden, die Marx noch nicht haben konnte, betrachtet Althusser als die wesentliche Aufgabe der marxistischen Philosophie und schlägt vor, die Gesellschaft statt als sich in hegelscher Manier aus einem inneren Zentrum heraus entäußernde und hierdurch wiederum aufs Telos ihrer Versöhnung zusteuernde »Totalität« als ein immer schon gegebenes »komplexes Ganzes«, eine vielschichtige »Struktur mit Dominante« zu begreifen.

Im Mittelpunkt von Althussers Überlegungen steht die Frage nach der Funktionsweise von Widersprüchen und Kausalität in der Gesellschaft. Statt von einem aus der dialektischen Entzweiung einer einfachen Einheit entstehenden Widerspruch hegelscher Art auszugehen, schlägt er vor, den materialistischen Begriff des Widerspruchs als »überdeterminierten Widerspruch« zu fassen. Was damit gemeint ist, kann man ungefähr so beschreiben: Wenn Menschen glauben, aus ideellen Motiven zu handeln, dann handeln sie, so lehrt Marx, tatsächlich ökonomisch determiniert – das sehen alle Marxisten so. Wenn aber Menschen behaupten, ökonomisch zu handeln, dann handeln sie ideologisch determiniert – wenn beispielsweise heute Privatisierungsprojekte von Politikern mit ökonomischen Sachzwängen begründet werden, sind es tatsächlich nicht die angeblichen Sachzwänge, die dahinter stehen, sondern ideologische Weichenstellungen, die das Verständnis ökonomischer Rationalität prägen: in, nicht »hinter« ihnen wirkt die »Ökonomie«.

Die Gesellschaft ist eine »Topik« der »Instanzen« Ökonomie, Politik, Ideologie, unter denen, wie Althusser es in Anlehnung an den späten Engels ausdrückt, die Ökonomie sich als die »letzte Instanz« durchsetzt. In diesem Sinne hat Lenin gezeigt, wie komplexe Widersprüche bewirken, dass in den entwickelten kapitalistischen Ländern die Schwelle des revolutionären Durchbruchs noch nicht erreicht ist, dafür aber in Russland als dem »schwächsten Kettenglied« des imperialistischen Weltsystems sich explosiv entladen. Dies bedeutet zugleich: Es gibt keine »ideale« bürgerliche Gesellschaft und keine »idealen« Bedingungen der Revolution, sondern wir leben sozusagen immer unter »Ausnahmebedingungen«.

Auf der Suche nach einem adäquaten Verständnis der Wirkungsweise der Ökonomie als »letzte Instanz« hat Althusser den Begriff einer »strukturalen Kausalität« zur Diskussion gestellt, wobei diese Terminologie sich an die aus der Linguistik und der Ethnologie stammende Methodologie des Strukturalismus anlehnt, der Grundgedanke tatsächlich aber seine Wurzeln in der Philosophie Spinozas hat. Es geht Althusser darum, die »Ökonomie« nicht als eine mechanisch das außerökonomische Geschehen bestimmende Ursache zu bestimmen, sondern als eine »abwesende« oder nur in ihren Wirkungen, nämlich den realen gesellschaftlichen Verhältnissen anwesende. Nur so lässt sich die Ökonomie als »letzte Instanz« auch in Gesellschaften wie der feudalen des Mittelalters begreifen, wo eine Ökonomie im Sinne regelrecht »ökonomischer« Institutionen nur peripher existiert und tatsächlich politische und ideologische Mächte die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen. Die Ökonomie ist keine Einbahnstraße, die linear den Weg der Gesellschaft bestimmt, sondern sie ist der Zusammenhang der vielschichtigen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. »Strukturale Kausalität« und »Überdetermination« heißen folglich aber auch: Es gibt niemals eine »reine« Ökonomie. »Die einsame Stunde der letzten Instanz schlägt nie, weder im ersten noch im letzten Augenblick.«[1]

voriger Abschnittzum Seitenanfangzum SeitenendenaechsterAbschnitt

II.

In seinen Arbeiten aus den sechziger Jahren hat Althusser die These vertreten, dass das Denken von Marx ab 1845, als Marx und Engels in der Deutschen Ideologie mit ihrem »ehemaligen philosophischen Gewissen abrechnen«, einen »epistemologischen (wissenschaftstheoretischen) Einschnitt« vollzogen hat, durch den das wissenschaftliche Denken von Marx sich aus der Vorgeschichte metaphysischer, idealistischer, ideologischer Geschichtsbetrachtungen, einschließlich des Linkshegelianismus und Feuerbachianismus der marxschen Frühschriften, löst.

Der Gedanke, auf dem diese Argumentation beruht, ist zunächst ein formal wissenschaftstheoretischer, nämlich der einer »Dezentrierung« des Denkens in der Wissenschaft. »Seit Kopernikus wissen wir, dass die Erde nicht das ‚Zentrum‘ des Universums ist. Seit Marx wissen wir, dass das menschliche Subjekt, das ökonomische, politische und philosophische Ich nicht das ‚Zentrum‘ der Geschichte ist – wir wissen sogar, gegen die Philosophen der Aufklärung und gegen Hegel, dass die Geschichte kein ‚Zentrum‘ hat, sondern eine Struktur besitzt, die ein notwendiges ‚Zentrum‘ nur in der ideologischen Verkennung hat. Freud enthüllt uns auf seine Weise, dass … das menschliche Subjekt dezentriert ist, konstituiert durch eine Struktur, die ein ‚Zentrum‘ auch nur in der imaginären Verkennung des ‚Ich‘ hat, das heißt in den ideologischen Formationen, wo es sich ‚wieder erkennt‘.«[2]

Die Bewegung der »Dezentrierung«, die Ablösung ideologischer Weltbilder, in denen die Menschen sich als Zentrum der Wirklichkeit verstehen, durch die Erkenntnis von Zusammenhängen, in denen die Menschen und ihre Subjektivität als peripheres Resultat erscheinen, sieht Althusser hier als übergreifendes Charakteristikum von Wissenschaft, der im Laufe der Geschichte verschiedene »Erkenntnisobjekte« erschlossen worden sind. Auch hier ist die monumentale materialistische Metaphysik Spinozas das geheime Modell eines Verständnisses von Wissenschaft als Bildung »adäquater«, »klarer und deutlicher« Begriffe, die aus der notwendigen Verblendung subjektzentrierter Wahrnehmungsweisen heraustreten, indem sie einen theoretischen Gegenstand konstruieren, wie die Geometrie es tut. Marx hat in diesem Sinne seit 1845 durch Bildung neuer Begriffe wie »Produktivkräfte« und »Produktionsverhältnisse« als nicht aus Subjektivität ableitbaren Determinanten gesellschaftlicher Entwicklung eine neue »theoretische Problematik« erschlossen, eine strenge Konzeptualisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die imaginäre Subjekte wie »Gott« oder aber, als humanistisches Pendant an Gottes Statt, den »Menschen« oder die »Menschengattung« als sei es bewusste, sei es ihrer selbst unbewusste Agenten des Geschichtsprozesses verwirft. Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums, das Ich ist nicht das Zentrum der Psyche, die Menschen sind nicht die Herren der Geschichte, sondern handeln notwendig immer unter vorgefundenen, nicht frei disponierbaren Bedingungen. In Bezug auf das Verständnis der Geschichte markiert die Entdeckung von Marx im Jahre 1845 einen »epistemologischen Einschnitt« wie die Erkenntnisse von Thales, Galilei oder Freud in Bezug auf ihre jeweiligen theoretischen Gegenstände. Mit dem Subjekt fällt die Teleologie, die Annahme eines notwendigen Ziels der Geschichte: Geschichte ist ein »Prozess ohne Subjekt und ohne Ziel«.

Diese Thesen waren Gegenstand heftiger Polemiken. Kritiken, die ihm mangelndes Verständnis für den Menschen und seine Praxis vorwarfen, hat Althusser mit gutem Grund zurückgewiesen. Statt von »der Praxis« sprach er immer von verschiedenen Praxis-Arten, deren Beziehung zueinander zu klären ist. »An den Menschen etwas erkennen kann man nur unter der absoluten Bedingung, dass der philosophische (theoretische) Mythos vom Menschen zu Asche reduziert wird«[3]: an diesem Kern des »theoretischen Antihumanismus«, der mit einem politischen Humanismus durchaus Hand in Hand gehen kann – denn auch die theoretische und die politische Praxis verhalten sich immer ungleichzeitig zueinander – hat Althusser unbeugsam festgehalten. Durchaus ernst genommen hat er jedoch eine andere Kritik, die ihm sein 1968 ins linksradikal-antiautoritäre maoistische Lager übergegangener Schüler Jacques Rancière vorhielt: Althusser vertrete den autoritären Standpunkt der revisionistischen Parteibürokratie, indem er anhand wissenschaftstheoretischer Kriterien den Massen vorschreiben wolle, was sie zu denken haben.

In der Folge korrigiert Althusser seine These vom marxschen »Einschnitt«, indem er diesen nicht mehr als einen »epistemologischen« zwischen »Ideologie« und »Wissenschaft« begreift, sondern als einen politischen, der sich zunächst in der Ideologie ereignet, indem Marx den Standpunkt des Proletariats einnimmt, der es ihm gestattet, das zu erkennen, was die bürgerliche Ideologie nicht zu denken erlaubt. Hatte Althusser anfänglich die marxistische Philosophie als eine Wissenschaftstheorie oder, allgemeiner, »Theorie der theoretischen Praxis« verstanden und von der idealistischen Philosophie unterschieden, also als eine Metatheorie, die die Modalitäten theoretischer Begriffsbildung klärt und hierbei das Wissenschaftliche vom Vorwissenschaftlichen scheidet, so verwirft er jetzt die Auffassung, dass die Wissenschaft zu ihrer Rechtfertigung einer quasi juridischen Instanz bedürfe. In Anlehnung an Spinoza und Hegel betont er nun, dass es kein »Erkennen vor dem Erkennen« gibt: Erkennen kann man nur, indem man erkennt; über wissenschaftliche Geltungsfragen wird in der jeweiligen Wissenschaft entschieden und nicht durch philosophische Methodenlehren.

Wissenschaft produziert Erkenntnisse; ihre Sätze sind wahr oder falsch. Die Philosophie dagegen produziert keine Erkenntnisse, sondern formuliert Thesen, die in einem praktischen Sinne richtig oder falsch sind. Philosophie produziert keine Begriffe, sondern ordnet Kategorien, zieht »Demarkationslinien« (Lenin); sie ist in diesem Sinne grundlegend politisch, auch da, wo von Politik gar nicht die Rede ist, indem sie auf einem ideellen »Kampfplatz« (Kant) Weichenstellungen, Richtungsentscheidungen für die Erkenntnis vollzieht und damit auf ideologische Kräfteverhältnisse Bezug nimmt und in bestimmten Konjunkturen ein bestimmtes »Minimum an Allgemeinheit« formuliert. Sie repräsentiert den Klassenkampf in der Theorie.

Im Sinne von Gramsci ist jeder Mensch ein Philosoph, weil jeder Mensch die Wirklichkeit durch ein bestimmtes kategoriales Wahrnehmungsraster verarbeitet, das ihm zumeist nicht bewusst ist. In der Philosophie wird der Kampf um diese Wahrnehmungsraster ausgetragen: von ihren klassischen Disziplinen wie »Ontologie«, »Erkenntnistheorie« und dergleichen mehr bis hin zur revolutionären Philosophie von Marx. Unverändert vertritt Althusser die Auffassung, dass der Kern der marxistischen Philosophie weniger in den Verlautbarungen, die Marx und seine Nachfolger über die Welt im Ganzen, über Geist und Materie, Erkenntnis und Dialektik von sich gegeben haben, zu suchen ist, sondern in der Frage nach dem Prinzip der Konzeptualisierung, das im wissenschaftlichen und politischen Diskurs von Marx wirksam ist. Althusser verschiebt nunmehr aber den Akzent von der »Wissenschaftlichkeit« des Denkens von Marx, die er vormals hermetisch abzuschotten versuchte, in Richtung auf den »kritischen« und »revolutionären« Charakter dieses Denkens und seine Rolle als »Einsatz« im Klassenkampf.

Die Folge dieses Einbruchs der Politik ins Domizil der Wissenschaft ist die Einsicht, dass die »theoretische Revolution« von Marx ständig umkämpft ist und in immer neuen Konstellationen immer aufs Neue bewährt und weitergeführt werden muss. Als umkämpfte kann die Theorie von Marx nicht per se stabil und »rein« sein. Mitte der siebziger Jahre mehren sich nun die Anzeichen einer »Krise des Marxismus«, von der Althusser in seinem Referat auf dem von Il Manifesto veranstalteten Kongress »Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften« im November 1977 spricht. Erstens lassen sich die Schwierigkeiten des Marxismus mit einer seit der Oktoberrevolution in seinem Namen gemachten Geschichte nicht mehr verdrängen. Zweitens sind im Laufe jener Jahre neue soziale Bewegungen und Kämpfe hervorgetreten, mit deren Verständnis der ökonomistische Marxismus sich schwer tut. Drittens werden daraus die Defizite des bisherigen Marxismus hinsichtlich einer Theorie jener Sphäre der gesellschaftlichen »Topik«, die Marx den »Überbau« nannte, kenntlich: die Frage der Staatstheorie und eines politischen Transformationskonzeptes jenseits der Machtergreifung eines Parteiapparats war nicht von ungefähr ein wesentliches Thema der marxistischen Diskussion nach 1968.

Im Sinne Althussers ist die »Krise des Marxismus« kein Skandal: Jede Wissenschaft durchläuft Krisen. Der Skandal ist vielmehr der, dass die Krise durch den autoritären Dogmatismus der stalinistischen Apparate verdrängt und blockiert worden ist. In diesem Sinne begrüßt Althusser es, dass endlich offen von der Krise des Marxismus gesprochen werden kann, und erhofft sich von den Herausforderungen der neuen Konjunktur der Massenkämpfe eine Belebung, durch die der Marxismus sich endlich weiterentwickeln kann.

Damit entschlägt sich Althusser endgültig der Illusion, die Lösung der Krise könne in einem »Zurück zu Marx« bestehen, das nur den echten Marx von seinen Verfälschungen, oder, um mit Foucault zu reden, »Marxens wahren Bart« von »Stalins falscher Nase« zu unterscheiden hätte. Seine theoretischen Überlegungen konzentrieren sich auf die Frage, in welcher Weise das Werk von Marx, auch in seiner Reifezeit, durch historische Konjunkturen geprägt ist, deren mangelnde Reflexion durch den dogmatisierten Marxismus gerade zur Verengung und Blockierung des marxistischen Denkens geführt hat. Marx hatte beispielsweise eine bestimmte Vorstellung, wie eine wissenschaftliche Theorie in ihrer »Darstellung« beschaffen sein müsse, um wahr zu sein – in diesem Sinne hat zweifellos bei der Abfassung des Kapitals die hegelsche Logik Pate gestanden, in der Marx das Modell für begriffliche Kohärenz und Stringenz sah.

Marx hat sich dafür entschieden, die »Darstellung« der kapitalistischen Verhältnisse mit der Analyse der Warenform zu beginnen, um dann sukzessive die klassenmäßigen Ausbeutungsverhältnisse, die die realen Existenzbedingungen der warenförmigen Vergesellschaftung sind, begrifflich einzuholen. Indem Marx sich, »Forschungsweise« und »Darstellungsweise« unterscheidend, paradoxerweise gegen Hegels Kritik an »Methoden« das Korsett einer »vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigenden« Darstellungsordnung anlegt, deren Einhaltung die Gültigkeit der Theorie verbürge, verfällt er dem Zwang, mit der auf diese Weise homogenisierten Einheit des theoretischen Feldes seines »Erkenntnisobjekts« zugleich eine Einheit und Homogenität des »Realobjekts« zu suggerieren.[4] Dabei aber entstehen Brüche: Die historischen Darstellungen etwa des Kampfs um den Normalarbeitstag oder der ursprünglichen Akkumulation stehen außerhalb der begrifflichen Darstellungsordnung und sind doch mehr als bloße Exkurse. Zum anderen hat Marx versucht, die kapitalistische Wertschöpfung auf die rechnerische Formel W = c + v + m zu bringen (Wert = konstantes Kapital + variables Kapital + Mehrwert). Damit hat er, ohne es zu wollen, einer ökonomistischen Interpretation des Klassenkampfs durch die Organisationen der Arbeiterbewegung Vorschub geleistet, in der die quantitative Einbehaltung des Mehrwerts, also letztlich eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, im Zentrum steht und von qualitativen Aspekten der Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse abstrahiert wird. Die neuen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte aber haben gerade diese qualitativen Aspekte der Arbeitsbedingungen und Lebensformen zum Einsatz genommen. Die seit 1968 praktisch wirksamen »linksradikalen« Marx-Interpretationen – wenn diese Bezeichnung zur Abgrenzung von den traditionellen »ökonomistischen« Konzepten gestattet sei –, beziehen sich, in unterschiedlichen und widersprüchlichen Formen und theoretischen Paradigmen, alle mehr oder weniger darauf. Das bedeutet aber: Wie wir Marx interpretieren, welche »Problematiken« wir in Marx lesen, das ist nicht eine Frage des »richtigen« oder »falschen« Verständnisses, sondern eine Frage, die sich aus realen sozialen Bewegungen und Kämpfen ergibt und beantwortet.

voriger Abschnittzum Seitenanfangzum SeitenendenaechsterAbschnitt

III.

Mit seinen Überlegungen zur Ideologietheorie hat Althusser einen Versuch unternommen, eine Leerstelle bei Marx zu füllen. Der Begriff »Ideologie« gehört zum Basisvokabular des Marxismus, und doch ist nie Klarheit darüber erzielt worden, worum es sich dabei eigentlich handelt. In Texten von Marx finden sich divergierende Überlegungen. Tiefgreifende Ambivalenzen seiner Handhabung des Begriffs der Ideologie haben dazu geführt, dass in der Geschichte des Marxismus völlig unterschiedliche Auffassungen des Ideologiebegriffs entstanden sind: Ist Ideologie ein pejorativer (»falsches Bewusstsein«, Engels) oder ein wertneutraler Begriff? Hängt Ideologie mit Klassenpositionen zusammen (»Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken«, Marx/Engels in der Deutschen Ideologie), oder ist sie ein »gegenständlicher Schein« der Warenform (Marx im Fetischismus-Abschnitt im Kapital)? Gibt es eine »proletarische Ideologie« (Lenin), oder ist Ideologie »notwendig falsches Bewusstsein« (Lukács)?

Gemeinsam ist diesen Auffassungen in ihrer Widersprüchlichkeit zumindest, dass Ideologie als eine Form des Bewusstseins angesehen wird. Althusser hingegen geht vom systematischen Ort der Ideologie im Überbau aus, wie es in den von Marx zuerst vermutlich schon 1845 als »Leitfaden« formulierten, später ins Vorwort zur Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 übernommenen Überlegungen angedeutet ist, und misst ihr im Überbau eine materielle Existenz zu. Ideologie, so seine Grundthese, ist nicht in erster Linie Bewusstsein, sondern materielle Praxis, situiert in »ideologischen Staatsapparaten«, in denen der Staat sozusagen außerhalb seiner selbst in der Gesellschaft anwesend ist: Familie, Schule, Kirche, Medien, Sport und diverse andere; Althussers ideologietheoretischer Ansatz ist zugleich einer der Staatstheorie. In den ideologischen Staatsapparaten erfolgt die Reproduktion der Produktionsverhältnisse.

Die Ideologie ist nicht eine verkehrte, illusionäre Repräsentation der wirklichen Verhältnisse, sondern sie repräsentiert das imaginäre Verhältnis der Menschen zu ihren Existenzbedingungen, das ein aktives Element der Verhältnisse selbst ist. Die Wirkungsweise der Ideologie beschreibt Althusser in Anlehnung an Jacques Lacans linguistische Psychoanalyse als Konstitution von Subjektivität durch die »Anrufung« der Individuen durch imaginäre »große Subjekte«: Gott, die Nation, die Partei … Althusser betrachtet, im Gegensatz zu den traditionellen wie neulinken Repressions- und Manipulationstheorien, die Ideologie nicht als etwas Privatives, das den Subjekten etwas von sich selbst wegnimmt, sie über ihre wahren Interessen täuscht, sondern die Ideologie ist ein aktives, produktives Element; durch sie werden »Subjekte« überhaupt erst konstituiert. Die Ideologie ist es, die den Menschen ein Verständnis von sich selbst und eine »Wiedererkennung« in den gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt. Die Erhebung des Menschen zum freien, verantwortlichen, Zwecke verfolgenden, sich in den Verhältnissen wieder erkennenden und seine Handlungen als »sinnvoll« wissenden »Subjekt« (sujet) ist immer ein Akt der »Unterwerfung« (assujetissement) unter Normen im Medium der Ideologie. Wenn, so argumentierte Spinoza, ein Stein, ein Naturgesetzen unterworfener Gegenstand, Bewusstsein hätte, würde er sich für frei halten. In diesem Sinne bestimmt Althusser die Ideologie als das, was die Menschen dazu veranlasst, ihr zahlreichen gesellschaftlichen Determinanten unterliegendes Handeln als frei und sinnvoll zu verstehen.

Das Subjekt ist also nichts Ursprüngliches, sondern ein Effekt von Verhältnissen, und die Verhältnisse, die die Menschen als Subjekte zu sich selbst und ihren Existenzbedingungen haben, sind niemals transparent, sondern imaginär. Auch eine klassenlose Gesellschaft wird keine transparente Gemeinschaft freier Willenssubjekte sein, auch in ihr werden die Menschen ein imaginäres, ideologisches Verhältnis zu den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen haben. Althusser hat übrigens auch die insbesondere bei deutschen Marxisten beliebten Marxschen Überlegungen zum Warenfetischismus einer Kritik unterzogen, weil sie die Illusion einer transparenten Gesellschaft unterstellen: Die marxsche Argumentation will darauf hinaus, dass das Erscheinen menschlicher Verhältnisse als Verhältnisse von Dingen eine Besonderheit der kapitalistischen Gesellschaft sei im Unterschied zu anderen Gesellschaften, wo die Verhältnisse unmittelbar Verhältnisse zwischen Menschen seien. Das bestreitet Althusser, in dem er den Gebrauch, den Marx hier von den Kategorien »Mensch« und »Ding« macht, in Frage stellt – dieses Kategorienpaar Person–Sache entstammt selbst der juridischen Ideologie.[5]

Die althussersche Ideologietheorie wurde von vielen Kritikern als »pessimistisches« Ärgernis wahrgenommen. Althusser, so der Tenor in vielen ablehnenden Einlassungen, erhebe die verdinglichten Verhältnisse zur Norm, betrachte menschliche Emanzipation als unmöglich und schwimme im Strom konformistischen Legitimationsdenkens mit. Solche Argumente haben indes nur dann einen Sinn, wenn dogmatisch vorausgesetzt wird, was Althusser gerade bestreitet, dass nämlich Emanzipation nur über die Subjekt-Form erfolgen könne. Althussers Verdienst ist zunächst einmal, mit seiner Ideologietheorie den Kampf um Subjekt-Positionen in den ideologischen Staatsapparaten als wesentlichen Bestandteil des Klassenkampfs erkannt zu haben. Zweifellos lässt Althusser viele Fragen offen; sein Versuch, sich gegen den latenten Funktionalismus seiner Konzeption der ideologischen Staatsapparate durch Betonung des in ihnen ausgetragenen Klassenkampfs zu schützen, bleibt unzulänglich, wenn nicht die Spezifik der Kämpfe gesehen wird, die Michel Foucault Kämpfe um »Entunterwerfung« (désassujetissement) nennt, eine Art von Kämpfen, die tragendes Element der neuen sozialen Bewegungen seit 1968 ist: Kämpfe, in denen Menschen sich gegen das zur Wehr setzen, was sie als Subjekte an sich selbst kettet, und sich selbst neu zu erfinden versuchen. Foucault kommt hier schließlich den Fragestellungen des von ihm und Althusser zurückgewiesenen Existentialismus nahe.

Wesentlich ist: Althusser zeigt, dass Herrschaft sich nicht gegen das Subjekt vollzieht, sondern durch die Subjekt-Form selbst. Ferner: Althussers theoretische Position ist eine »linksradikale« in dem Sinne, dass sie Vergesellschaftung als solche als Problem wahrnimmt; hier steht Althusser in der Tradition von Spinoza, Nietzsche und Freud.

In dem Aufsatz Freud und Lacan (1964) sprach Althusser von dem »Krieg … , den die Menschheit nie geführt zu haben vorgibt, den sie immer im Voraus gewonnen zu haben glaubt, ganz einfach, weil sie nichts anderes ist, als ihn überlebt zu haben …: ein Krieg, der sich, in jedem Augenblick, in jedem ihrer Sprösslinge abspielt, die, jeder für sich, hin-, zurück- und niedergeworfen in Einsamkeit und gegen den Tod, den Gewaltmarsch gehen müssen, der aus Säugetierlarven Menschenkinder, Subjekte macht«[6]. Um als Subjekt zu existieren, muss das Individuum immer Anpassungsleistungen erbringen; die Unzähligen, die im Laufe der Jahrtausende zu diesen Anpassungsleistungen nicht imstande waren, sind laut- und namenlos zugrunde gegangen, im Diskurs des Humanismus existieren sie einfach nicht.

Mehr denn je sprechen heute, im Stande äußerster Schwäche der Linken, triftige Gründe für Althussers Zurückweisung aller Ideologien, die durch Konstruktion harmonisierender Menschenbilder dieses nie vollständig lösbare Dilemma überspringen. Die Linke besteht heute zu einem erheblichen Teil aus dissidenten Individuen, die bestimmte Anpassungsleistungen verweigern, wobei die im Interesse der Verwertbarkeit der Arbeitskraft erforderlichen mentalen Unterwerfungen in den letzten zwei Jahrzehnten zweifellos enorm angewachsen sind. Wahrscheinlich ist revolutionärer Kampf effektiv nur möglich, indem er das Element der »Entunterwerfung« einbezieht. Andererseits wird er kaum von dissidenten, radikalen, nach »Entunterwerfung« strebenden Subkulturen allein geführt werden können, sondern muss das Terrain gesellschaftlicher Normalstandards und die darin ausgetragenen »klassischen« (ökonomischen) Interessenkonflikte erfassen. Sein Resultat wird nicht wie der in restaurativer Erstarrung kollabierte Frühsozialismus neue Normsysteme zementieren dürfen, die dem Streben nach »Entunterwerfung«, nach dissidenten Lebensentwürfen und Infragestellung hierarchischer Ordnungen keinen Spielraum gewähren und stattdessen konservative Lebensformen fördern. Das dürfte der rationelle Kern der maoistischen Losung der »Fortsetzung des Klassenkampfs im Sozialismus« sein.

voriger Abschnittzum Seitenanfangzum SeitenendenaechsterAbschnitt

IV.

Es ist Althussers Verdienst, in den Marxismus eine Form der Reflexion eingeführt zu haben, die den Status von Begriffen in ihren Kontexten zu klären trachtet, Theorien nicht bloß »buchstabiert«, sondern untersucht, wie begriffliche Zusammenhänge, theoretische »Problematiken« funktionieren. Dabei überwindet Althusser die alte Dichotomie von »Theorie« und »Praxis«, indem er zeigt, dass Theorie selbst eine Art von Praxis ist – die mit Begriffen operiert –; umgekehrt ist Praxis nie rein spontan, sondern enthält stets implizit, meistens unbewusst, eine Art von Theorie, nämlich eine Konzeptualisierung der Wirklichkeit. Seine Fragestellung richtet sich zugleich auf die impliziten Konzepte, die einer »theoretischen Praxis« selbst inhärent sind. Von der wissenschaftstheoretischen gelangt er dabei zur politischen Reflexion der »Einsätze« der theoretischen Praxis des Marxismus in seinen verschiedenen Ausprägungen.

Der Marxismus ist, in grober Schematisierung, in zwei Hauptrichtungen aufgetreten, die Gegenstand von Althussers Kritik waren. Da ist zum einen die Orthodoxie, die aus einer Kanonisierung von Schriften von Marx und Engels zur »wissenschaftlichen Weltanschauung« entstand, deren über lange Jahrzehnte für die kommunistische Bewegung verbindliche Version der »Marxismus-Leninismus« Stalins und seiner Nachfolger war. Hier war der Marxismus ein umfassendes, quasi-metaphysisches philosophisches System zur Erklärung der Welt, mit »Dialektik« als »universellem Bewegungsgesetz« der Materie. Wenn Althussers These zutrifft, dass die Philosophie die Politik in der Theorie repräsentiert, dann ist der stalinsche Marxismus die Repräsentation der Staatlichkeit in der Theorie: ein begriffliches Ordnungssystem, über das Partei- und Staatsapparate die soziale Praxis zu kontrollieren und zu reglementieren strebten. Dagegen opponierte die »humanistische« Lesart des marxschen Denkens als »Philosophie der Praxis«. Diese Lesart schuf indes, indem sie den »Menschen« und die »Praxis« zum neuen konzeptuellen Zentrum erhob, neue hierarchische und reduktive Ordnungsprinzipien, in denen eine »Essenz« des Menschen postuliert wird, wodurch sich aufs Neue normativ reglementierende Maßstäbe für das, wie die Menschen sein und was sie tun und lassen sollen, einschleichen.

Demgegenüber sucht Althusser die »Philosophie« von Marx, die das Konzept einer revolutionären Politik darstellt, nicht primär in dem, was Marx und Engels explizit als »Philosophie« im klassischen Sinne produziert haben, sondern in den impliziten Fragestellungen, Thesen und Kämpfen im Denken von Marx. Die schönsten Worte dafür fand Althusser in seiner Vorlesung über die »Transformation der Philosophie« in Granada (1976): »Marx hat uns als erster ein Beispiel gegeben« für die Aufgabe, die wir heute wahrzunehmen haben, »indem er die Philosophie in einer verstörenden und neuen Form praktizierte, indem er sich weigerte, eine Philosophie als Philosophie zu produzieren, sondern indem er die Philosophie in seinem wissenschaftlichen, kritischen und politischen Werk praktizierte, kurz: indem er eine neue, in seinen Worten ‚kritische und revolutionäre‘ Beziehung zwischen der Philosophie und den sozialen Praktiken schuf, die der Einsatz und der Ort des Klassenkampfs sind. Diese neue Praxis der Philosophie dient dem proletarischen Klassenkampf nicht, indem sie ihm eine zwanghafte ideologische Einheit auferlegt (wir wissen, wohin dieser Zwang führt), sondern indem sie die ideologischen Bedingungen der Befreiung und der freien Entfaltung der sozialen Praktiken schafft. Nur so kann die Philosophie dem Ende der Ausbeutung und Klassenherrschaft und der Befreiung der Menschen dienen.«[7]

voriger Abschnittzum Seitenanfangzum Seitenende

V.

Was bleibt von Althusser? Slavoj Zizek nannte ihn einmal einen »verschwindenden Vermittler« zwischen marxistischer Tradition und den neuen, um »Entunterwerfung« kämpfenden sozialen Bewegungen und ihrem theoretischen Pendant, für das die Bezeichnung »Poststrukturalismus« gebräuchlich ist. Althusser stritt dafür, dass »der Marxismus endlich beginnt, sich zu erkennen, wie er ist, und sich verändern wird«[8]. In der in künftigen Klassenkämpfen anstehenden Transformation des Marxismus wird Althusser selbst vermutlich so etwas wie eine »abwesende Ursache« sein, anwesend in den Wirkungen der Herausbildung einer neuen revolutionären Theorie und Praxis, die das Erbe von Marx und Lenin aus der episteme des neunzehnten Jahrhunderts löst, um es in einen Bezugsrahmen einzubinden, der die Gesamtheit der Unterwerfungen, Einsperrungen und Disziplinierungen, die die Arbeitskraft als Ware konstituierten, an den Wurzeln packt.

Althussers bleibende Leistung als marxistischer Philosoph, der den revolutionären Marxismus immer als eine Art »Gegen-Marxismus« begriff, ist die, dass er, wohl ohne es selbst zu wissen, als erster systematisch innerhalb des Marxismus jenen Paradigmenwechsel vollzogen hat, den als linguistic turn zu bezeichnen sich eingebürgert hat, indem er das aus der klassischen Philosophie überkommene Subjekt-Objekt-Paradigma durch ein diskursanalytisches ersetzte. Hatte die neuzeitliche Philosophie seit Descartes die Beziehung eines einsam sich auf die ihm gegebenen »Objekte« beziehenden denkenden »Subjekts« gleichsam als Knotenpunkt angesehen, über dessen richtige Handhabung die Wahrheit sich erschließe, so war die zentrale Bewegung in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts die Wendung zu der Auffassung, dass unser Zugang zur Welt uns immer durch Sprache gegeben ist. Eine »Politik in der Theorie«, die um die Frage kreiste, wie ein »Objekt« richtig ins Bewusstsein eines »Subjekts« gelangt und dieses zur richtigen Repräsentation des ersteren – im klassischen marxistischen Diskurs wirksam beispielsweise als Frage nach dem Verhältnis von »Klasse an sich« und »für sich« –, wurde abgelöst durch die Frage, welches Verhalten zur Welt sich in bestimmten Beschreibungen derselben darstellt. Dem trug Althusser Rechnung, indem er die Frage nach »falschem« oder »richtigem« Bewusstsein über die objektiven Verhältnisse ablöste durch die nach den Praktiken, durch die gesellschaftliche Verhältnisse konstituiert und beschrieben werden. Ist Praxis allgemein die Transformation einer gegebenen »Grundmaterie« in ein »Produkt« unter Einsatz bestimmter »Produktionsmittel«, so ist Theorie diejenige Praxis, die eine aus gegebenen Beschreibungen von Sachverhalten bestehende Grundmaterie über ein Set theoretischer Produktionsmittel, die Althusser die »theoretische Problematik« nennt, in eine neue Beschreibung transformiert. Jede Praxis impliziert eine spezifische »Theorie«, eine bestimmte Art von »Wissen«, das gleichwohl den Akteuren selbst zumeist nicht als »Theorie« bewusst ist, und die theoretische Ausarbeitung dieses Wissens ist selbst eine Praxis.

Marx hat sich nicht einfach die Phänomene des Kapitalismus angeschaut und aus ihnen dann ihren Begriff extrahiert, sondern er hat in langwieriger Anstrengung Theorien rezipiert, aus deren Aporien und blinden Flecken er eine neue Problemstellung erschloss: die der Ausbeutung in einem antagonistischen Klassenverhältnis und der Bedingungen ihrer Aufhebung. Althusser hat sich in seinen Anstrengungen, zu »verstehen, was Marxismus heißt«, der Bequemlichkeit der »Marxisten« verweigert, die die von Marx gewonnenen Resultate als vermeintlich gesicherte Besitzstände hüteten und daraus eine Praxis der ritualisierten Beschwörung von aus Marx entnommenen Formeln zur Begründung von Ansprüchen auf Kontrolle sozialer Praxis herleiteten. Althusser ging den steinigen Weg, die Frage nach der »Theorie« zu stellen, die der »theoretischen Praxis« von Marx selbst innewohnt; das bedeutet, auf Marx selbst das von Althusser »symptomale Lektüre« genannte Verfahren anzuwenden, das Marx befähigte, die Grenzen des Diskurses der politischen Ökonomie zu durchbrechen: die in der theoretischen Praxis anwesenden und abwesenden Probleme zu durchleuchten; zu prüfen, welche »Einsätze« und welche »Effekte« mit einer bestimmten theoretischen Praxis, der Produktion eines theoretischen Feldes verbunden sind.

Ein »Zurück zu Marx« ist wohlverstanden nur in einem Sinne möglich: nicht als »Eins-zu-eins«-Rekonstruktion dessen, was der »Autor« Marx »uns sagen wollte«, sondern darin, die theoretische Anstrengung, mit der Marx sich an der Art, wie seine Zeitgenossen ihre Gesellschaft beschrieben, kritisch abarbeitete, um diese Gesellschaft veränderbar zu machen, fortzusetzen in Bezug auf die Art, wie in den multiplen Diskursen diverser Praxiszusammenhänge heute die Gesellschaft beschrieben wird: in ihnen die anwesenden und abwesenden Probleme aufzuspüren, um die Verhältnisse veränderbar zu machen. Die Resultate von Marx werden uns dabei eine unverzichtbare Hilfe sein; zum selbstzweckhaften Bestand von Glaubenssätzen hypostasiert wären sie wertlos. Althusser nahm sich die Freiheit, mit Marx das zu tun, was sein Schüler und Freund Michel Foucault in Bezug auf Nietzsche sagte: Die Anerkennung, die wir einem solchen Denken zu zollen hätten, »besteht darin, dass man es benutzt, verzerrt, misshandelt und zum Schreien bringt. Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.«[9] Es könnte lohnen, ihm darin zu folgen.

{zum Ankündigungs-Text →/zum Seminar-Bericht →}


Fussnoten

1)Louis Althusser, »Widerspruch und Überdeterminierung«, in: Für Marx, Frankfurt a. M. 1974, S. 81.

2)Louis Althusser, »Freud et Lacan«, in: Écrits sur la psychanalyse, Paris 1993, S. 47.

3)»Marxismus und Humanismus«, in: Für Marx, a. a. O., S. 179.

4)Hier wären einige Anmerkungen zu den von Althusser implizit kritisierten Strategien der verschiedenen Marx-Orthodoxien fällig. Die alte, an Engels anknüpfende Orthodoxie interpretierte die Darstellungsweise im Kapital als eine »logisch-historische«: eine »einfache Warenproduktion« sei die realhistorische Keimzelle des Kapitals. Diese Auffassung ist von Althusser und im Einklang mit ihm von den meisten westlichen Marxinterpreten verworfen worden. Eine solche Theorie impliziert ein prämonetäres Verständnis des Wertbegriffs, das von Marx der Kritik unterzogen wurde (vgl. Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 2. Aufl. Münster 1999).
Die marxschen Bestimmungen des Wertbegriffs lassen sich nicht so interpretieren, dass in einer »einfachen Warenproduktion« Äquivalente auf der Grundlage bekannter Arbeitsquanta getauscht würden; sie greifen vielmehr nur dann, wenn durch die notwendig intransparente Ausbeutung von Arbeitskraft Mehrwert produziert wird. In der Diskussion über eine »logische« Interpretation der marxschen Darstellungsweise hat sich indes eine Neoorthodoxie formiert, die als zentrales theoretisches und politisches Projekt die Kritik nicht des Mehrwerts, also der Ausbeutung, sondern des Werts an sich als Vergesellschaftungsform versteht.
Die »wertkritische« Neodogmatik behauptet eine zwar nicht historische, aber doch »logische« Vorgängigkeit des Wertbegriffs als »wesensmäßige« Bestimmung dessen, was Althusser das »Realobjekt« nennt: Aus der Warenform sollen alle möglichen politischen und ideologischen Phänomene »abgeleitet« werden. Bestimmungen, die Marx aus Gründen der Darstellungslogik als Präludium der Entwicklung der Bestimmungen der Klassenausbeutung voranzustellen für nötig hielt, werden für Realgründe beliebiger »Erscheinungen« bürgerlicher Vergesellschaftung gehalten. Gegen solche »Ableitungstheorien« macht Althusser, der in seiner späten Phase das Primat des Realobjekts gegenüber dem Erkenntnisobjekt betont, geltend, dass die realen sozialen Beziehungen und Praxen irreduzible Konstituentien kapitalistischer Verhältnisse sind: eben nur in ihren »Wirkungen« existiert die »Ursache«, nicht jenseits von ihnen.
Das Kapital ist ein gesellschaftliches Verhältnis und als solches ein Verhältnis von Verhältnissen; wer die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederum aus ihm »ableiten« will, muss natürlich die damit einhergehenden Zirkelschlüsse als »Dialektik« mit den Weihen einer höheren Wissensform versehen. Man kann freilich den Staat oder das Recht aus der Warenform »ableiten«. Ohne jene gäbe es diese indes nicht. Interessanter als die Ableitungsscholastik ist für Althusser deshalb die Frage, wie die realen ideologischen und politischen Praxen, durch die das Kapital sich reproduziert, funktionieren und sich rationalisieren. Prägnanter als Althusser hat Michel Foucault es auf den Punkt gebracht: Das Problem aller Arten von Ableitungstheorien ist, dass sie so einfach sind – man kann aus dem Interesse der Bourgeoisie oder aber aus dem Fetischcharakter der Ware alles »ableiten« und zu allem auch das Gegenteil (vgl. Michel Foucault, »Recht der Souveränität / Mechanismus der Disziplin«, Vorlesung vom 14. Januar 1976, in: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 84 ff.).

5)Wenn Engels das Absterben des Staates in der klassenlosen Gesellschaft als Übergang von der Herrschaft über Personen zu einer »Verwaltung von Sachen« bezeichnet, kommt genau dieses Problem zum Tragen: Der Begriff der »Person« oder allgemeiner des »Menschen« und der der »Sache« sind gerade keine unmittelbar gegebenen Evidenzen, sondern konstituiert durch eine juridische Ideologie, in der mit einem »freien Willen« ausgestattete und solcherart als Rechtssubjekte qualifizierte »Personen« transparente Verhältnisse untereinander und zu den »Sachen« einnehmen. Eine kollektive Verwaltung von Sachen ist indes schwerlich denkbar ohne zumindest relativ intransparente imaginäre Verhältnisse; gerade »Verwaltung« impliziert ein Moment von Rationalität, das sicher nicht per se als herrschaftsfrei angesehen werden kann. – Was den »Fetischismus« als Selbstmystifikation gesellschaftlicher Verhältnisse angeht, räumt Althusser natürlich ein, dass dieses Problem existiert, kritisiert aber das Unterfangen, es unmittelbar aus der Warenform herleiten zu wollen, die bei Marx zunächst einmal eine theoretisch begründete Abstraktion darstellt, als Realabstraktion aber nur durch ein viel komplexeres Ensemble von Verhältnisse funktioniert. Vgl. in Althussers nachgelassenem Fragment »Marx dans ses limites« (in: écrits philosophiqes et politiques, Band I, Paris 1994) den Abschnitt »Sur le fétichisme« (S. 487–495).

6)In der englischen Fassung für die New Left Review fügte Althusser hinzu: männliche und weibliche Subjekte. Nicht von ungefähr rührt das starke Interesse feministischer Theoretikerinnen an Althusser.

7)»La transformation de la philosophie«, in: Sur la philosophie, Paris 1994, S. 178.

8)»Le marxisme aujourd’hui« (1978), in: M – mensuel, marxisme, mouvement Nr. 43, Januar 1991, S. 11.

9)Michel Foucault, »Räderwerke des Überwachens und Strafens. Ein Gespräch mit J.-J. Brochier«, in: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 47.

{zum Ankündigungs-Text →/zum Seminar-Bericht →}

voriger Abschnittzum Seitenanfang

2013 || theoriepraxislokal.org