Grundsatzerklärung der Sozialistischen Studienvereinigung

 

Die Sozialistische Studienvereinigung ist ein Zusammenschluss von Menschen aus verschiedenen Strömungen der antikapitalistischen Linken in Frankfurt und Umgebung, die sich die gemeinsame Aneignung der von Marx datierenden revolutionären Theorie und des Wissens über die Zusammenhänge und Hintergründe der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ziel gesetzt haben. Zweck unserer Anstrengungen ist es, Kenntnisse zu erarbeiten, die es den Beteiligten ermöglichen, selbstbestimmt denkend und handelnd die herrschenden Ideologien der bürgerlichen Gesellschaft infrage zu stellen und an der Überwindung des kapitalistischen Systems, d. h. an der Aufhebung der zerstörerischen Blindheit aller produktiven Prozesse, die es hervortreibt, zu arbeiten. Wir sehen uns bei aller Verschiedenheit der in unseren Reihen vertretenen Ansätze als Teil der emanzipatorischen Traditionen der revolutionären Arbeiterbewegung. Von daher verstehen wir Wissensaneignung und Theoriebildung als Bestandteil einer gesellschaftlichen Praxis, die darauf ausgeht, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches, ein verlassenes Wesen ist«. Unser Ziel ist eine Gesellschaftsordnung, in der »die freie Entwicklung des Einzelnen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist« (Karl Marx).

Unser theoretischer Ausgangspunkt soll die Aneignung, Rekonstruktion und Aktualisierung der revolutionären Theoriebildung ab Marx sein. Diese subversive Methode der radikalen historischen Kritik alles Bestehenden soll auch vor den eigenen Grundlagen und politischen Entwicklungen nicht Halt machen. Wir versuchen damit sowohl gegen die Auflösung marxistischer Theorie in Beliebigkeit wie auch gegen erstarrte Doktrinen und Dogmatismus in allen Varianten zu arbeiten.

Bestandteil unseres Politikverständnisses ist auch eine Kritik am Blick der »weißen« männlichen Arbeiterbewegung auf Frauen und »nichtweiße« Bevölkerungen. Klassenherrschaft, Rassismus und Sexismus sind strukturell ineinander verschränkte Unterdrückungsverhältnisse, die nur durch einen umfassenden widerständigen Ansatz von organisierter Theorie und Praxis aufhebbar sind. Die Emanzipation der Arbeiterklasse und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sind unablösbar vom Kampf gegen rassistische und sexistische Unterdrückung.

Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen rassistische Diskriminierungen sehen wir insbesondere die gründliche Kritik des Antisemitismus. Diese Projektion wäre aufzulösen bis in die zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse hinein, denen sie immer erneut entspringt und denen sie stets dient. Im Judenhass wird der gegen das personifizierte Kapital gerichtete Hass als Vorstellung vom »Geldmenschen« abgelenkt: diese verkürzte »Kritik« des Kapitalismus und »des Geldes«, insbesondere als bloßer »Kasinokapitalismus«, »parasitäres Spekulantentum« usw., ist durchaus aktuell und gefährlich. Besonders in der deutschen Linken ist auch die Frage des »Antizionismus« bis heute ungeklärt, der immer die Möglichkeit eines verkappten Antisemitismus in sich birgt.

Die rassistische Spaltung der Gesellschaft in »weiße« und »nichtweiße«, deutsche und ausländische ArbeiterInnen spiegelt die Konkurrenz als elementares Gesetz des Kapitalismus und den imperialistischen Charakter der globalen gesellschaftlichen Arbeitsteilung wider. Die Ausplünderung eines großen Teils der Weltbevölkerung durch die Staaten und multinational organisierten Konzerne der imperialistischen Zentren ermöglicht die Privilegierung eines Teils der multiethnisch zusammengesetzten Arbeiterklasse der Zentren als »weiß« und die Diskriminierung eines anderen Teils als rechtlos, weil »nichtweiß«. Erfolgreich kann diese rassistische Spaltung sein, weil sie auf realen ökonomischen Ungleichmäßigkeiten, Privilegien und metropolitanen Partizipationsmöglichkeiten der Lohnabhängigen basiert. Zur Strategie einer sozialistischen Klassenpolitik gehört demgegenüber das entschiedene Herausarbeiten der gemeinsam geteilten Ausbeutung und Unterdrückung durch den kapitalistischen Verwertungsprozess und das Zur-Geltung-Bringen der gemeinsamen Interessen des globalen Proletariats.

Während etliche neurechte Vertreter der »Achtundsechziger-Generation« neuerdings ihre Sympathien für die Nation offenbaren, sehen wir heute, dass Nation und Nationalismus als vorgebliches Etappenziel der Befreiung ein für allemal obsolet sind. »Die Arbeiter haben kein Vaterland«, konstatieren schon Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei, und darauf beziehen wir uns endlich real, wenn wir zeigen wollen, dass der Kampf der Arbeiterbewegung heute mehr denn je ein internationaler sein muss. Wie wir alle nationalistischen Hetzer bekämpfen, so müssen wir auch illusorische Vorstellungen zurückweisen, die sich in der Konzeption eines »Sozialismus in einem Lande« oder vom »Selbstbestimmungsrecht der Nation« gegen den Imperialismus ausdrücken.

Wir sehen es als Erfordernis, mit den theoretischen Grundlagen auch die verschütteten Erfahrungen der Arbeiterbewegung wieder freizulegen, die Geschichte der sozialen Bewegungen und des Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur als Ideengeschichte, als Ansammlung theoretischer Anstrengungen zu begreifen und nicht auf die Geschichte der Organisationen, Strategien und führenden Personen zu reduzieren, sondern den Blick zu erweitern auf die Gesamtheit der Alltagserfahrungen und widerständigen Regungen der Lohnabhängigen und Geknechteten. Die proletarische Klassenposition, von der wir ausgehen, setzt voraus, die Zerrissenheit und Isolation, die Enteignung und Entfremdung der ArbeiterInnen von ihren Lebensäußerungen zu begreifen, die Geschichte dieser Prozesse als die unsere zu analysieren und als Ansatzpunkt für die Bildung von Klassenbewusstsein und sozialistischer Aufklärung im Sinne der Überwindung von Entmündigung und Apathie zu nutzen.

Es erscheint irritierend, dass die drastischen Veränderungen im modernen Kapitalismus, die gravierende Verschlechterungen der Lage der Arbeiterklasse bedeuten, der gesellschaftliche Rechtsdrall und die Erosion der Demokratie von der überwältigenden Mehrheit der Lohnabhängigen zunächst mehr oder weniger hingenommen werden. Zwischen dem in der Linken weit verbreiteten »Abschied vom Proletariat« und der wirklichen »Neuzusammensetzung der Klasse« gilt es gegenwärtig überhaupt erst wieder das mögliche Subjekt der Überwindung des Kapitalismus in den Blick zu bekommen und die vielfältigen Gesten und Kampfformen der Lohnabhängigen zu entdecken. Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der auch neue Potenziale für soziale Kämpfe freigesetzt werden und es deshalb Aufgabe der SozialistInnen und KommunistInnen ist, immer weiter treibender organisierender Bestandteil dieses langen Prozesses der Entstehung einer neuen, den Bedingungen des Kapitalismus im 21. Jahrhundert gemäß handlungsfähigen revolutionären Arbeiterbewegung zu sein.

Wir sind der Ansicht, dass gemeinsame Rekonstruktion revolutionärer Theorie und Geschichte-von-unten einen Schlüssel finden kann für die Veränderung unserer gesellschaftlichen Praxis. Die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse im Klassenkampf und die Marginalisierung der Linken zwingen uns alle, die historisch entstandenen Spaltungen der revolutionären Arbeiterbewegung infrage zu stellen. Das bedeutet nicht, dass die politischen Differenzen unwichtig geworden wären; sie sind Resultat realer Kämpfe und Konstellationen unserer Geschichte, realer Fehler, Illusionen und Verbrechen. Unsere derzeitige Lage eröffnet die neue Möglichkeit, sich über die tradierten Linien und Gräben hinweg auf der Grundlage unserer gemeinsamen Wurzeln und Zwecke zu verständigen.

april 2000

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