Auseinandersetzung . Aus dem Zirkularbrief 3 von Oktober 2001

Henning Böke (Für den Abdruck gekürzt von Fritz Güde)

Finale Erklärung

Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Sozialistischen Studienvereinigung.

Die Situation ist grotesk: In Anbetracht der unüberbrückbaren Differenzen mit dem »harten Kern«, die mich keine Perspektive mehr sehen lassen, in diesem Gremium meine theoretische Arbeit in einer ergiebigen Weise fortzusetzen, würde man mir normalerweise sagen: Wenn dir die Richtung nicht passt, dann geh doch. Seit geraumer Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, mir eine Frist von einem oder zwei Jahren zu setzen und dann Bilanz zu ziehen. Es mehrten sich die Anzeichen, dass ich das, wofür ich einstehe, nicht mehr würde vermitteln können, weil ein mehr und mehr reflexionsfeindliches Klima entstand. Wenn ich in zugespitzten Situationen daraufhinwies, dass ich die Konsequenzen bestimmter Weichenstellungen nicht mehr würde mittragen können, wurde mir dies als erpresserische Drohung ausgelegt, weil ich kein gewöhnliches Mitglied war, sondern für bestimmte Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit unentbehrlich. Hier besteht kein Grund zur Panik: Die Internetseiten werde ich so lange weiter betreuen, bis jemand sich findet, der dies übernehmen kann; auch die Halbjahresprogramme werde ich, solange es nötig ist, weiterhin produzieren. Aber Geld gibt es von mir nicht mehr.

Ich sah in der Sozialistischen Studienvereinigung auf der Grundlage ihrer Politischen Erklärung, die inhaltliche Grundlinien benennt, die sich mit meinen Einschätzungen decken, ein viel versprechendes Projekt zur Strömungsübergreifenden Rekonstruktion einer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse an ihren Wurzeln aufdeckenden Theoriebildung, über die eine Verständigung über die »gemeinsamen Wurzeln und Zwecke« antikapitalistischer, antirassistischer, an der Klassenfrage orientierter Optionen und eine Wieder- und Neugewinnung von langfristigen Perspektiven der praktisch zurzeit undurchführbaren Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftungszwänge in all ihren Dimensionen möglich sein könnte.

Zu meinen grundlegenden Überzeugungen gehörte immer, dass dies Geduld und langen Atem erfordert, die der Ungleichzeitigkeit von Theorie und Praxis, der Diversität der Diskurse und Paradigmen innerhalb der Linken Rechnung trägt und in erster Linie Reflexionsräume für eine Selbsterkenntnis der Linken, die ständige Überprüfung alter »Gewissheiten« erfordert. Die Maxime von Marx lautete: De omnibus dubitandum, an allem ist zu zweifeln.

Wir alle sind uns dessen bewusst, dass in einer Zeit dramatischer Umbrüche, die einstweilen in erster Linie zu Verschlechterungen der Bedingungen des Kampfes um die Befreiung von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen führen, praktische Herausforderungen hinsichtlich der Positionierung bestehen. Der Versuch von Faschisten, am Kampftag der Arbeiterklasse Frankfurt zu »erobern«, die in der neueren europäischen Geschichte beispiellose Machtdemonstration der Staatsgewalt in Genua, schließlich die Eskalation eines internationalen Konflikts, in dem die imperialistischen Staaten nach dem Ende der Auseinandersetzung um rational begründbare Gesellschaftsentwürfe mit einem Gegner konfrontiert sind, von dem nichts Gutes zu erwarten ist, durch die irrsinnigen Terroranschläge in den USA stehen hierfür. Diese Ereignisse haben in der Sozialistischen Studienvereinigung eine völlig schiefgewickelte »Theorie-Praxis-Diskussion« ausgelöst, die in eine Sackgasse mündete, aus der ich keinen Ausweg sehe.

Diese Frage müsste in präzisen Termini gestellt werden. Es geht nicht um »Theorie« und »Praxis«, sondern um die Frage: Welche Theorie? Welche Praxis?

Niemals bin ich dagegen eingetreten, zu den aktuellen Themen Diskussionen anzubieten, deren Verlauf in Protokollen zu dokumentieren und in Flugschriften die von uns verfolgten Fragestellungen öffentlich zur Debatte zu stellen. Was ich nicht billigen konnte und kann, ist etwas anderes: nämlich der Versuch Einzelner, hier einseitige Richtungsentscheidungen durchzusetzen. Das Problem ist: Die Sozialistische Studienvereinigung hat eine Mehrzahl von eingeschriebenen Mitgliedern, die, als Menschen, die mit vielerlei Dingen beschäftigt und belastet sind, nur begrenzte Kapazitäten zur Beteiligung an Entscheidungsprozessen aufbringen. Auch meine Möglichkeiten waren und sind eingeschränkt.

Dem steht eine Minderheit gegenüber, die in äußerst emsiger Aktivität ihre Positionen, die weder bei mir noch bei anderen Mitgliedern konsensfähig sind und Konsensfähigkeit auch gar nicht anstreben, als repräsentativ durchzusetzen versuchte. Dies führte schließlich zur faktischen Fraktionsbildung, die erkennen lässt, dass ein Teil der Mitglieder das strömungsübergreifend angelegte Projekt in erster Linie für die Formierung einer neolinkskommunistischen Plattform nutzen möchte. Ich bezweifle, dass nach Lage der Dinge die »praktischen« Möglichkeiten dieser Plattform über Verlautbarungspolitik hinausgehen.

Diese einseitige Fraktionierung wird aber zur Folge haben, dass jene Reflexionsräume, die ich brauche wie die Luft zum Atmen, beschnitten werden, wenn ein Teil sich als Trendsetter einer Verwurstung dessen, was diese Kräfte für unumstößliehe Gewissheiten halten, in fraktionellen Flugschriften in Szene setzt, die mich als Theoretiker, dem intellektuelle Redlichkeit gebietet, einiges viel vorsichtiger anzugehen, permanent in Zugzwang setzen.

Im Vorfeld des Naziaufmarschs am Ersten Mai verfassten die beiden Vorsitzenden einen Beitrag zur Frage der Vorgehensweise eines revolutionären Antifaschismus.[vergl.zur Auseinandersetzung um das dazu entstandene »Jekyll & Hyde« die Dokumentation auf der website der soz.Studienvereinigung]

Um in die Diskussion über die mit dem Polizeiterror von Genua ins Rampenlicht rückende Anti-Globalisierungs-Bewegung einzugreifen, verfassten dieselben Autoren wieder eine Flugschrift extrem holzschnittartigen Charakters, die jeden Versuch, differenzierte und umsichtige Analysen zu erarbeiten, brutal konterkariert. Statt die »Theorie« und »Praxis« auch nur einer einzigen der diversen Strömungen der Globalisierungsgegner einer einigermaßen präzisen Analyse zu unterziehen, wird mit pauschalen Bezichtigungen, Unterstellungen und Rundumschlägen gearbeitet, denen eine gnadenlos versimpelte Version des wahren Jakob, den die Autoren bei Marx zu finden meinen, entgegengehalten wird. Wer den Kapitalismus als »System der Produktion um der Produktion (von Tauschwert) willen« bezeichnet, setzt den behaupteten Vorsprung gegenüber denen, die sich »auf der Ebene der Kritik der Macht des Geldes« bewegen, aufs Spiel. Von Marx wäre Besseres zu lernen.

Ich habe in jener Situation als Alternative für ein kollektiv verantwortbares Flugblatt Formulierungen angeboten, eilig in wenigen Minuten zusammengeschrieben und mit einigen Mängeln, die im Falle einer Veröffentlichung zu korrigieren gewesen wären, in denen erstens betont wurde, dass wir selbst in der Wiedergewinnung der eigenen Ziele erst am Anfang stehen, und zweitens diese Ziele in einer Weise benannt wurden, die Reformen, die die realen Lebensbedingungen realer Menschen verbessern können, nicht in einen unnötigen Gegensatz zur revolutionären Option rücken, einen Gegensatz, der in erster Linie ein Konstrukt der Diskurswelt von Dogmatikern ist, welche die Reinheit ihrer Gesinnung für wichtiger halten als das reale Los der Opfer des kapitalistischen Weltsystems [...][...][...]

Welche Theorie, welche Praxis? Ich stehe in einer Tradition, die Brecht in die schönen Worte fasste: Der Revolutionär »organisiert den Kampf um den Lohngroschen, das Teewasser und die Macht im Staat«. Revolutionäre Praxis ist meiner Überzeugung nach nicht möglich ohne »Teewasserpolitik«, den Kampf um konkrete Verbesserungen, in dem die Massen ihrer Möglichkeiten, den Lauf der Dinge zu wenden, gewahr werden können. Das aber kann die Sozialistische Studienvereinigung nicht leisten. Ihre »praktischen« Möglichkeiten beschränken sich von der Konstellation her a priori auf die Herausgabe von Verlautbarungen, die nur ein begrenztes Segment der Linken erreichen. Sie kann es einfach schon deshalb nicht, weil die Wahrnehmung der eigentlichen Aufgaben mit der Forcierung von Aktionismen einfach von den Kapazitäten her kaum vereinbar sein dürfte. Es liegt organisatorisch einiges im Argen; die Finanzlage scheint desolat zu sein, Transparenz müsste geschaffen werden. Überdies war, wenn ich mich recht entsinne, ursprünglich beabsichtigt, dass Veranstaltungen auf den Gruppentreffen nachbereitet werden sollten. Wenn das nicht geschieht, wenn Veranstaltungen bloß abgespult werden, ohne dass die in ihnen dargestellten theoretischen Inhalte für die Gruppenarbeit aufgegriffen werden, dann verkommt die theoretische Arbeit zur Betriebsamkeit, der die des politischen Aktionismus als Komplement unvermittelt gegenübersteht.

Wenn politische Verlautbarungen erfolgen, müsste dies umsichtig, im Bewusstsein von Verantwortung für die Gesamtbewegung geschehen. Dieses Ziel wird von denen unterlaufen, die dem diskursiven Zelebrieren von corporate identity den Vorrang geben. [...].

Ich möchte es nicht versäumen, in diesem Zusammenhang ein Thema aufzugreifen, das seit geraumer Zeit in den Differenzen zwischen Lutz und mir schwelte. Lutz warf mir immer vor, dass ich mit meinen »strukturalistischen«, »funktionalistischen« Diskursanalysen (etwa in meiner Kritik an »Jekyll & Hyde«), in denen ich mich vor allem mit der Frage beschäftige, wie Verlautbarungen »funktionieren«, als Gruppencodes wirken und für welche soziale Basis sie stehen, die Inhalte wegwische. Ich gebe zu bedenken: Der eine oder die andere erinnert sich vielleicht an die Zeit der späten achtziger Jahre, als alle möglichen Veranstaltungen regelmäßig von Agitatoren der Marxistischen Gruppe (MG, fortbestehend in der Zeitschrift »Gegenstandpunkt«) heimgesucht wurden, deren unverwechselbares Charakteristikum Kommentare in einem eigentümlich zynisch-süffisanten Stil waren. Die MG-Vertreter haben auch immer gesagt: Beschwer dich nicht über unseren Stil, sondern sag uns, was an unseren Inhalten falsch sein soll. Der Clou war der, dass der MG-Diskurs ein bestimmtes zynisches Vokabular zur konstitutiven Grundlage hatte, die innerhalb dieses Diskurses nicht verhandelbar war, weil sie sein Funktionieren verbürgte, über das die »Inhalte« ihre suggestive Wirkungsmacht (die MG soll an die zehntausend Mitglieder gehabt haben) erlangten. Auch bei den Diskursen unserer allezeit Bescheid wissenden Flugschriftenschreiber muss die Frage nach dem Status der konstitutiven Vokabulare erlaubt sein [...][...]

Ich gehe, und das betrifft wirklich im Kern den Zusammenhang von Theorie und Praxis, davon aus, dass Aussagen über gesellschaftliche Sachverhalte durch Praxiszusammenhänge konstituiert sind. In diesem Sinne kann man zeigen, durch welche Praktiken etwa aus dem Text von Marx der »Marxismus-Leninismus« wurde und sich als verbindliche Interpretation der Theorie von Marx darstellen konnte. Ebenso ist aber der Frage nachzugehen, durch welche Praxiszusammenhänge neuerdings aus dem Text von Marx Flugblattaussagen über die revolutionäre weltweite Aufhebung der kapitalistischen Warenproduktion« -  beiläufig: wieso eigentlich nur der »kapitalistischen«? - zur Universallösung werden können. [...].

Marx setzte nicht auf die Arbeiterklasse, weil Arbeiter besonders gute und kluge Menschen wären, sondern weil er sie als diejenigen benennen konnte, die von ihren objektiven Möglichkeiten her in der Lage sind, die Produktionsverhältnisse zu verändern. In jener Zeit war es das schwerindustrielle Proletariat, das im Zentrum der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums stand und von daher die Bedingungen der Produktion des Reichtums hätten verändern können. Dieses Industrieproletariat ist heute eher peripher, wenn auch keineswegs inexistent oder bedeutungslos; festgestellt werden muss, was heute die Schlüsselsektoren der Produktion sind, wie die Abhängigkeitsverhältnisse in ihnen und um sie herum beschaffen sind und welcher Zugriff auf sie möglich ist, um die gesellschaftliche Produktion anders zu organisieren. Revolutionäre Praxis ist nur möglich, wenn die politische Linke in die gesellschaftliche Mitte hineinzuwirken vermag, die die Schlüsselbereiche der Produktion und des Wissens in Beschlag hält.

Zwischen denen, die subjektiv ein Interesse an Veränderung der Verhältnisse haben, und denen, die diese objektiv organisieren könnten, klafft einstweilen aber ein Abgrund. Eine Praxis des Widerstands gegen die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse wird noch geraume Zeit begrenzt sein auf gesamtgesellschaftlich marginale Bereiche, zu denen einerseits das rapide schrumpfende traditionelle Arbeitermilieu und andererseits durch Verweigerung hegemonialer Lebensformen sich gegen bürgerliche Herrschaftsformen abgrenzende Subkulturen gehören; hinzu tritt das Spektrum derjenigen, die (siehe Globalisierungsgegner) moralisch gegen die weltweiten Ausbeutungsverhältnisse zu sensibilisieren sind. Aufgabe der Linken wäre es, Verständigungsprozesse zwischen diesen Sektoren zu organisieren, um eine Basis zu ermitteln, auf der sich voranschreiten ließe. Unumgänglich ist für alle diejenigen, die hierbei für sich den Vorsprung theoretischer Reflexion in Anspruch nehmen möchten, die Bestimmung der Relationen und Grenzen ihrer jeweiligen Wirkungsmöglichkeiten. Nur wer die Grenzen sieht und benennt, könnte sie überwinden.

[...] Über Monate habe ich gemeinsam mit Lutz den Betrieb am Laufen gehalten, die Kehrseite der Betriebsamkeit dabei zu spüren bekommen und es unterlassen, offen auszusprechen, was mit mir nicht geht.

.[...] Ich gehe im Gefühl der Erleichterung, mich eines Albdrucks entledigt zu haben, um eine Illusion ärmer zu sein und ein Problem weniger zu haben.

Die Entstehung einer neuen Linken, die zu revolutionärer Praxis im eigentlichen Sinne imstande wäre, wird geraume Zeit in Anspruch nehmen. Sie sollte des Zusammenhangs gewärtig sein, den Louis Althusser »die Klarheit der Intelligenz und den Vorrang der Volksbewegungen vor der Intelligenz« nannte. Sie sollte das Beste aus der Tradition in sich aufnehmen, der ich mich parteipolitisch zugehörig fühle, und die moralische Kraft derer, die heute gegen die »Globalisierung« aktiv werden, mit der Erkenntnis dessen verbinden, was deren Ursache ist. Verzichten sollte sie auf die hohle Grossprecherei unserer Fraktionsmatadore, die das Anwerfen des Kopiergeräts zwecks Vervielfältigung der reinen Lehre für Praxis halten.

Henning Böke, 24.-26. September 2001

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