René Viénet: Enragés und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen (1968)

Stilistisch überarbeitete, um S.156 bis 158 Mitte des Schlusskapitels 10 sowie den Dokumentenanhang gekürzte online-Fassung nach der dt. Übersetzung von Barbara Merkel und Pierre Gallissaires: René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen. Paris Mai'68. Hamburg 1977.
Als Printfassung gibt es das Buch derzeit in der Reihe:Texte der Situationistischen Internationale, hg.von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft.

Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
1. Kapitel: 
Die Rückkehr der sozialen Revolution
2. Kapitel: 
Die Ursprünge der Agitation in Frankreich
3. Kapitel: 
Die Strassenkämpfe
4. Kapitel: 
Die Besetzung der Sorbonne
5. Kapitel: 
Der wilde Generalstreik
6. Kapitel: 
Tiefe und Grenzen der revolutionären Krise
7. Kapitel: 
Der Kulminationspunkt
8. Kapitel: 
Der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen (C.M.D.O.) und die Tendenzen zum Rätesystem
9. Kapitel: 
Die Wiederherstellung des Staates
10. Kapitel: 
Die Perspektive der Weltrevolution nach der Bewegung der Besetzungen

Vorbemerkung zum naechsten Abschnitt

Der Verfasser sucht nicht zu verhehlen, mit wem er sympathisiert. Vielleicht wird man es also nicht für unnütz halten, wenn er hier präzisiert, dass er für die Richtigkeit aller Tatsachen bürgen - und sie sogar beweisen - kann, über die er in diesem Buch berichtet - was umso mehr für alle zitierten Texte gilt.

Wenn auch alles, was er geschrieben hat, wahr ist, so kann er doch nicht den Anspruch auf eine ausreichende Darstellung erheben, der über die historische Gesamtheit der Bewegung der Besetzungen Bericht erstatten würde. Die Zeit solcher Forschungen wird kommen. Vorläufig fehlt der größte Teil der Informationen über das, was in fast allen französischen Provinzen und in den meisten Fabriken - einschließlich der Gegend um Paris - passiert ist. Auch wenn der Verfasser sich andererseits auf den wesentlichen, aber doch genau umrissenen Aspekt der Bewegung der Besetzungen beschränkt, mit dem er sich in diesem Buch beschäftigt, konnte er es sich nicht erlauben, gewiss Aspekte der Ereignisse zu erwähnen, die ohne Zweifel höchst interessant für den Historiker gewesen wären, deren Verbreitung aber gegen verschiedene Leute benutzt werden könnte, was in Anbetracht der bestimmten Periode leicht zu verstehen ist, in der dieses Buch verfasst wurde.

Der Verfasser hatte das Glück, über die Mitarbeit mehrerer Mitglieder der Situationistischen Internationalen verfügen zu können, von denen zwei zu der Gruppe der ‘Enragés’ gehört hatten. Er will hier darauf hinweisen, dass er ohne sie dieses Buch keinesfalls hätte schreiben können.

Brüssel, den 26. Juli 1968, R.V.  

 

Der Inhalt solcher Geschichten kann daher nicht von großem äußeren Umfang sein; was gegenwärtig und lebendig in ihrer Umgebung ist, ist ihr wesentlicher Stoff … Der Autor beschreibt das, was er mehr oder weniger mitgemacht, wenigstens mitgelebt hat. Es sind keine Zeiträume, individuelle Gestaltungen von Menschen und Begebenheiten … Es genügt nicht, Zeitgenosse der Ereignisse gewesen zu sein, über die man berichtet, oder gut über sie informiert zu sein. Der Autor muss der Klasse und dem sozialen Milieu zugehören, die er beschreibt, ihre Meinungen, Denkkarten und ihre Kultur müssen dieselben sein wie die seinen. Um die Fakten richtig zu kennen und sie an ihrem wirklichen Platz zu sehen, muss man am Gipfel stehen – sie nicht von unten aus betrachten, durch das Schlüsselloch der Moral oder anderer Weisheiten.
G.W.F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte

 

1. Kapitel:
Die Rückkehr der sozialen Revolution
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"Sicher, der Situationismus ist nicht das Gespenst, das in der industriellen Revolution umgeht - nicht mehr als 1848 der Kommunismus das Gespenst war, das in Europa umging.”
Francois Chatelet, Nouvel Observateur vom 3.Januar 1968

 

/S.10/
In der Geschichte gibt es wenige Beispiele für eine so tiefgreifende soziale Bewegung wie die, welche im Frühjahr 1968 in Frankreich zum Durchbruch gekommen ist; keine, über die so viele Kommentatoren der einhelligen Meinung waren, dass sie nicht vorauszusehen war. Diese Explosion war jedoch eine von denen, die am leichtesten vorauszusehen waren. Damit stellt sich ganz einfach heraus, dass niemals zuvor das Wissen und das geschichtliche Bewusstsein einer Gesellschaft dermaßen mystifiziert worden waren.

Die Situationisten beispielsweise denunzierten und bekämpften die ‘Organisation des Scheins’, die in der Warengesellschaft ein spektakuläres Ausmaß erreicht; sie hatten bereits seit Jahren die aktuelle Explosion und ihre Folgen sehr genau vorausgesehen. Die kritische Theorie, die von der Situationistischen Internationalen ausgearbeitet und verbreitet wurde, konstatierte mit Leichtigkeit als Grundvoraussetzung für jedes revolutionäre Programm, dass das Proletariat noch immer nicht untergegangen war; dass der Kapitalismus den Entfremdungsprozess immer weiter vorantreibt; dass überall, wo dieser Antagonismus existiert, die soziale Frage, die schon vor über einem Jahrhundert aufgeworfen wurde, weiter besteht; dass dieser Antagonismus überall auf der Erde existiert.

Die S.I. erklärte die Verschärfung und Konzentration des Entfremdungsprozesses durch die Verzögerung der Revolution. Diese Verzögerung war offensichtlich ein Ausfluss der internationalen Niederlage des Proletariats nach der russischen Konterrevolution und der gleichzeitig vorangetriebenen Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie. Die S.I. wusste, wie so viele des Wortes beraubte Arbeiter auch, dass die Emanzipation der Arbeiter immer und überall gegen die bürokratischen Organisationen stößt, die ihre verselbständigte Repräsentation / Vertretung sind: entweder die Bürokratie, die sich – wie in Russland und später in anderen Ländern – als Klasse organisiert durch die staatlich-totalitäre Machtergreifung; oder die privilegierte Führungsschicht der Gewerkschaften und Parteien, die im Dienste der modernen Bourgeoisie daran arbeiten, die Arbeitskraft, als deren Makler sie auftreten, in die rationelle Führung der Wirtschaft zu integrieren. Die Situationisten stellten fest, dass die ständige Fälschung, die für das Überleben der bürokratischen Apparate notwendig und in erster Linie gegen alle revolutionären Handlungen und Theorien gerichtet ist, ein Hauptbestandteil der modernen Gesellschaft ist. Sie hatten auch die neuen Formen der Subversion erkannt - und bemühten sich, sich ihnen anzuschließen –, deren erste Anzeichen sich häuften und die schon damit anfingen, verworren aus der Gesamtheit der Unterdrückungsbedingungen die Perspektive einer totalen Kritik herauszuarbeiten. So wussten sie um die Möglichkeit und das nahe Bevorstehen eines neuen Beginns der Revolution – und zeigten diesen auch auf. Vielen erschienen ihre Perspektiven paradox – ja sogar irrsinnig: sie wurden eines Besseren belehrt. /S.11/

In der gegenwärtigen Rückkehr der Revolution ist das Geschichtliche selbst das Unerwartete für die Staatstheoretiker – was bei ihnen nicht erstaunlich ist – und für die ganze Kanaille der Pseudo-Kritik. Es ist sicher, dass die Analyse das Wirkliche nur erreicht, indem sie Partei ergreift in der wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Der in dieser Hinsicht organisierte Mangel bewirkt, dass der Prozess, der von allen erlebt wird, nicht für alle verständlich ist. In diesem Sinne ist das Vertraute des entfremdeten Lebens und der Ablehnung dieses entfremdeten Lebens nicht gleichzeitig auch bekannt. Aber für die revolutionäre Kritik, die ihre eigene Theorie der praktischen Bewegung wieder zuleitet, aus der sie sie abgeleitet und nachdem sie sie bis auf die von ihr verfolgte Kohärenz gebracht hat, war sicher nichts einfacher vorauszusehen als diese neue Epoche der Klassenkämpfe, die durch die Bewegung der Besetzungen eingeleitet wird. (Philippe Labro, der die Atmosphäre in Frankreich vor der Krise in seinem Buch ‘Ce n’est qu’un début’ [hg. von E.P.P.Denoel] beschreibt, wagt so zu behaupten, dass ‘die Situationisten glaubten, ins Leere zu sprechen’. Das ist eine dreiste Umkehrung der Wirklichkeit. Es ist wohlverstanden Labro, der lediglich wie so viele andere glaubt, dass die Situationisten ins Leere gesprochen hätten.)

Die Stalinisten, als Ideologen der bürokratisch-totalitären Ausbeutungsform, waren in Frankreich wie auch anderswo auf eine rein konservative Rolle beschränkt. Es war ihnen schon seit langem unmöglich, die Macht zu ergreifen, und das Auseinanderfallen auf internationaler Ebene der monolithischen bürokratischen Organisation, die ihr unersetzliches Aushängeschild ist, schließt ihnen diese Tür für immer. Gleichzeitig verwehrte ihnen diese Festlegung und die daraus folgende Praxis die Möglichkeit einer Umwandlung in einen Apparat rein bürgerlich-reformistischen Typs.

Die maoistische Variante reproduzierte durch eine religiös anmutende Versenkung in einen revolutionären Fernen Osten ihrer Phantasie illusorischer Weise die Eroberungsphase des Stalinismus und leierte seine übersetzten Reden vollends ins Leere herunter.

Die drei oder vier trotskistischen Sekten stritten sich verbissen um den Ruhm, 1917 noch einmal zu wiederholen, wenn sie endlich die dazu geeignete Partei aufgebaut haben würden. Diese ‘wiederauferstandenen Bolsheviki’ beschäftigten sich viel zu fanatisch mit der revolutionären Vergangenheit - und deren schlimmsten Irrtümern -, als dass sie überhaupt in der Lage gewesen wären, einn Blick auf die moderne Gesellschaft zu werfen.

Einige mischten diesem historischen Exotismus auch noch den geographischen einer Revoluzzer-Theorie der Unterentwicklung bei, mehr oder weniger orientiert an Che Guevara.

Wenn alle diese Gruppen auch seit kurzer Zeit einige Militante um sich sammelten, so war das doch keineswegs auf Aktualität ihrer Analysen zurückzuführen, sondern nur auf die zeitgenössische Zersetzung der sogenannten kommunistischen Bürokratien. /S.12/

Was die modernistischen Pseudo-Denker des Protests im Kleinen angeht, diese Überbleibsel des Militantismus der Linken, die in die Regionen der sogenannten ‘Geistes’-Pseudowissenschaften aufgestiegen waren und alle Wochenzeitschriften mit Ideen belieferten, so ist offensichtlich, dass sie nicht in der Lage waren, auch nur irgendetwas zu begreifen, geschweige denn irgendetwas vorauszusehen. Denn sie waren eklektischer Weise fast allen Aspekten der Fälschungen innerhalb der alten Welt unterworfen. Sie waren gleichzeitig dem bürgerlichen Staat, dem keuchenden Stalinismus, dem verjüngten Castro-Bolshevikismus, der Psychosoziologie und selbst ihrem eigenen elenden Leben zutiefst verbunden. Sie respektierten alles. Sie verbreiteten Lügen über alles. Man findet sie auch heute noch immer, stets bereitwillig zur Erklärung von allem und jedem.

Im Gegensatz zu einem großen Teil der Massen, die, durch die revolutionäre Krise im Mai in Bewegung gebracht, anfingen zu verstehen, was sie erlebten, und damit auch das, was sie bis dahin gelebt hatten – und diejenigen, die das klarste Bewusstsein entwickeln konnten, haben die totale Theorie der Revolution als die ihre erkannt – haben all die Spezialisten der angeblich kritischen und subversiven Ideologie oder des Aktivismus genauso wenig irgendetwas verstanden, wie sie etwas vorausgesehen hatten. Was konnten sie unter diesen Umständen auch tun? Genug von ihnen. Sie haben unbewegt ihr gewohntes Lied weitergespielt als Begleitmusik zum Untergang der toten Zeit, wo sie sich noch für die künftige Elite der Revolution hatten halten können. Die Melodie, lange zuvor für ihre Taufe geschrieben, erklang als Trauermarsch zu ihrem Begräbnis.

Tatsächlich stellte der Prozess des Wiederauftauchens der theoretischen Kritik und der handelnden Kritik geschichtlich gesehen eine objektive Einheit dar. Die neuen Bedürfnisse der Epoche schufen ihre eigene Theorie und ihre eigenen Theoretiker. Der Dialog, der sich so ankündigte – wenn auch begrenzt und entfremdet durch die bestehenden Verhältnisse der Trennung – ging seiner bewussten subjektiven Organisierung entgegen, und durch die gleiche Bewegung beginnt jede dieser Kritiken die Totalität ihrer Aufgaben zu entdecken. Beide sind zuerst als Kampf gegen die neuen Formen der Ausbeutung in der Klassengesellschaft entstanden. Einerseits haben die wilden Streiks des Westens und die Arbeiteraufstände des Ostens den Kampf gegen die Bürokratien verschiedenen Typs in die Praxis eingeführt. Andererseits hat die gegenwärtige revolutionäre Theorie mit einer Kritik der Lebensbedingungen innerhalb des überentwickelten kapitalistischen Systeme begonnen: einer Kritik des Pseudo-Überflusses der Ware und der Reduktion des Lebens zum Spektakel, des repressiven Urbanismus und der Ideologie – wobei diese als ein Werkzeug verstanden wird, das stets im Dienste der Spezialisten der Herrschaft steht.

Als die S.I. eine kohärente Theorie dieser Wirklichkeit formulierte, /S.13/ hat sie gleichzeitig die Negation dieser Wirklichkeit aufgezeigt durch die vereinigte Realisierung der Kunst und der Philosophie und die Befreiung des alltäglichen Lebens.

(Das Wort ‘Situationismus’, das nie von der S.I. verwendet wurde, welche jegliche Errichtung eines ideologischen Lehrgebäudes radikal ablehnt, ist von der Presse reichlich manipuliert und mit den phantastischsten Definitionen verbunden worden – so z.B. ist sie ‘die Avantgarde der Studentenbewegung’ (…) und eine Technik des ‘intellektuellen Terrorismus’ (…) usw. Trotz der offensichtlichen von der S.I. durchgeführten Weiterentwicklung des aus Hegels und Marx’ Methode hervorgegangenen historischen Denkens hat sich die Presse bemüht, die Situationisten mit dem Anarchismus gleichzusetzen. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist die Definition der Situationisten als ‘anarchistischer als die Anarchisten selbst, die sie für zu bürokratisch halten’ [in: ‘Carrefour’ vom 8.5.1968])

So fand das radikal Neue die gesamte alte Wahrheit der vorübergehend zurückgedrängten proletarischen Bewegung wieder. Das aktuelle Programm entdeckt auf einem höheren Niveau das Projekt der Abschaffung der Klassen wieder, des Zugangs zur bewussten Geschichte und der freien Gestaltung des Lebens; und es entdeckt die Form der Arbeiterräte als Mittel wieder.

Als Ausgangspunkt der neuen revolutionären Bewegung in den industrialisierten Ländern, die im Brennpunkt der ganzen modernen Geschichte stehen, kann der Arbeiteraufstand in Ost-Berlin 1953 angesehen werden, welcher den bürokratischen Lügnern an der Macht die Forderung nach einer ‘Regierung der Metallarbeiter’ entgegensetzte. Der ungarische Aufstand von 1956 hat die Verwirklichung der Rätemacht eingeleitet, obwohl er auf der Grundlage einer ungenügenden Industrialisierung des Landes stattfand und unter den besonderen Bedingungen eines Nationalaufstands gegen die fremde Unterdrückung [durch die SU], gegen die allgemeine Verelendung [im COMECON] und den generalisierten [stalinistischen] Terror.

Die Auslösung der Studentenunruhen in Berkeley / USA Ende 1964 stellte die Organisation des Lebens in dem am weitesten entwickelte kapitalistischen Land überhaupt in Frage, angefangen bei seinem Unterrichtswesen, und gab das Signal für eine Revolte, die sich seitdem auf die meisten europäischen Länder ausgedehnt hat.

Man muss an dieser Stelle allerdings die Fortdauer der Straßenkämpfe anmerken, die von den ZenGakuRen, radikalen japanischen Studenten, seit 1960 geführt werden. Ihr Beispiel wurde in Frankreich in den letzten Jahren immer häufiger erwähnt. Die politische Position ihrer ‘Revolutionären Communistischen Liga’ - links vom Trotskismus und gleichzeitig gegen Imperialismus und Bürokratie [des staatskapitalistischen (post-)stalinistischen bzw. maoistischen Typs] gerichtet, war weniger bekannt als ihre Kampftechnik.

[In den USA] jedoch blieb diese [auf die ganze Lebensweise im modernsten Kapitalismus gerichtete] Revolte, auch wenn einige der zentralen Themen von einer fortgeschrittenen Position zeugten, eine partielle, da sie auf das ‘studentische Milieu’ beschränkt blieb, welches selbst das Objekt rasch wechselnder Veränderungen ist, um den Anforderungen des modernen Kapitalismus gerecht zu werden. Partiell blieb diese Revolte auch, insofern /S.14/ das erst kürzlich entstandene politische Bewusstsein nur recht bruchstückhaft war und verschiedenen neo-leninistischen Illusionen unterworfen - so oftmals dem idiotischen Respekt vor der Farce der maoistischen ‘Kulturrevolution’. Das ‘race-problem’, der Vietnamkrieg und Kuba nahmen eine unangemessene und mystifizierende Position in den Kämpfen der US-Studenten ein, die jedoch selbst realistisch waren.

Jener ‘Anti-Imperialismus’, der zu einer kontemplativen Zustimmung [zu den vermeintlichen ‘revolutionären Einheitsfront-Befreiungsorganisationen der nationalen und sozialen Emanzipationskämpfe der Völker der Dritten Welt’] heruntergekommen war, hat fast immer in den europäischen Studentenbewegungen eine entscheidende Rolle gespielt. Seit dem Sommer 1967 [dem 2.Juni] hatten die Demonstrationen der Studenten in West-Berlin eine Wendung hin zur Gewalt genommen; sie dehnten sich auf ganz Westdeutschland aus als Antwort auf das Attentat auf Dutschke [Ostern 1968].

In Italien gingen seit Dezember 1967 die Studenten noch weiter, besonders in Turin, und besetzten ihre Fakultäten, was Anfang 1968 zur Schließung der wichtigsten Universitäten des Landes führte.

Bei der aktuellen Krise [‘Prager Frühling’ bis August 1968] der bürokratischen Macht in der Tschechoslowakei - dem einzigen industrialisierten Land, das nie vom Stalinismus erobert worden war - handelt es sich im Wesentlichen um den gewagten Versuch der herrschenden Klasse, selbständig den Verlauf ihrer ernstlich kranken Ökonomie zu korrigieren. Unter dem Druck der seit Ende 1967 von Studenten und Intelligenzia geführten Agitation hat sich die Bürokratie entschlossen, dieses Risiko einzugehen. Streikende Arbeiter, die anfangen, die direkte Verwaltung der Fabriken [durch die Arbeiter selbst] zu fordern, sind von nun an die gefährlichste Drohung, die auf einer bürokratischen Ordnung lastet, die gezwungen war, eine Liberalisierung vorzutäuschen.

Die bürokratische Aneignung der Gesellschaft ist untrennbar von einem totalitären Besitz der Staatsmacht und von einer absoluten Herrschaft ihrer Ideologie. Die Abwesenheit einer Zensur, die Garantie des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Versammlungsfreiheit führen über kurz oder lang in der Tschechoslowakei zu folgender Alternative: entweder zu einer Repression - wobei der künstliche Charakter der erwähnten Zugeständnisse deutlich würde - oder aber zum Ansturm des Proletariats auf das bürokratische Eigentum an Staat und Wirtschaft, das demaskiert würde, sobald die herrschende Ideologie einige Zeit auf die Allgegenwärtigkeit ihrer Polizei verzichten müsste. Der Ausgang eines solchen Konfliktes ist von allerhöchstem Interesse für die russische Bürokratie [der SU], deren eigenes [polit-ökonomisches] Überleben durch einen Sieg der tschechoslowakischen Arbeiter in Frage gestellt würde. – (Hinzufügung im Oktober 1968:) Drei Wochen, nachdem dieses Buch dem Herausgeber übergeben worden war, hat die Intervention der russischen Armee [in Gestalt des Truppeneinsatzes fast aller Staaten des ‘Warschauer Paktes’ zur Okkupation der Tschechoslowakei gemäß der ‘Breschnew-Doktrin’ über die ‘begrenzte Souveränität sozialistischer Staaten’] am 21.August 1968 klar gezeigt, dass die Bürokratie den dort laufenden Prozess unter allen Umständen abbrechen musste. Alle westlichen ‘Weggenossen’ der Bürokratie, die ihre Bestürzung und ihr Bedauern angesichts dieses Vorfalls heucheln, sind natürlich weniger hellsichtig als ihre Herren, was deren lebenswichtige Interessen angeht. /S.15/

Im März 1968 hat die bedeutende polnische Studentenbewegung auch das Gomulka-Regime erschüttert, das aus der erfolgreich durchgeführten bürokratischen Reform nach der Krise des Jahres 1956 und der Niederschlagung des ungarischen Arbeiteraufstands hervorgegangen war. Die Frist, die damals [für den National-Stalinismus in Polen] gewonnen worden war, geht ihrem Ende entgegen. Aber die Arbeiterklasse hat sich diesmal nicht den Studenten angeschlossen, deren Bewegung in der Isolierung erstickt wurde. Einzig die Pseudo-arbeiter, die Aktivisten der Partei und die Hilfspolizisten der Milizen haben in diesem Augenblick der Krise eingegriffen.

Erst in Frankreich ist eine entscheidende Schwelle überschritten worden, findet die [wirkliche] Bewegung alle ihre innersten Ziele wieder. Die Arbeiter eines modernen kapitalistischen Landes sind massiv zu radikalen Kampfformen zurückgekehrt. Alles wird wieder in Frage gestellt. Die Lügen einer Epoche brechen zusammen. Nichts kann mehr so weiter gehen wie vorher. Europa kann vor Freude von seinem Sitz aufspringen und jubeln: ‘Brav gewühlt, alter Maulwurf !’.

Der situationistische Skandal in Strasbourg 1966 hatte die Stunde des Untergangs der gewerkschaftlichen Organisierung der Studenten eingeläutet. Das örtliche Büro der UNEF [Studentengewerkschaft] hatte sich plötzlich zugunsten der Thesen der S.I. erklärt, indem es die Broschüre von Mustapha Kayati ‘Über das Elend im Studentenmilieu’ herausgab. Die angewandte Methode, die Prozesse, die daraus hervorgingen, die unerbittliche Kohärenz der Darstellung machten den großen Erfolg dieser Flugschrift aus. Angesichts dessen kann man von einem ersten gelungenen Versuch sprechen, mit der Vermittlung der revolutionären Theorie an die anzufangen, die sie rechtfertigen. Rund zehn verschiedene Übersetzungen erweiterten die Leserschaft dieses Textes, besonders in den USA und Italien. Wenn sein unmittelbarer Einfluss auf die Praxis in Frankreich geringer war, dann deshalb, weil dieses Land damals noch nicht in die Kämpfe verwickelt war, die in anderen Ländern schon begonnen hatten. Doch waren diese Argumente dem Teil der französischen ‘Studenten’ vielleicht nicht unbekannt, die sich kurz danach wesentlich deutlicher als in jedem anderen Land verachtungsvoll über das gesamte Studentenmilieu, seine Regeln und Endzwecke äußern sollten. /S.16/

Die Vielfältigkeit der revolutionären Situation in Frankreich, die dem Stalinismus den härtesten Schlag versetzt hat, den er je im Westen erlebte, drückt sich durch die einfache Tatsache aus, dass die Arbeiterklasse spontan einen großen Teil einer Bewegung übernommen hat, die ausdrücklich eine Kritik der Hierarchie, der Ware, der Ideologie, des [bloßen] Überlebens und des Spektakels war. Es ist im Übrigen bezeichnend, dass Positionen oder Sätze, die in den beiden in den letzten Tagen des Jahres 1967 erschienenen Büchern der situationistischen Theorie vertreten werden (‘Die Gesellschaft des Spektakels’ von Guy Debord und das ‘Handbuch der Lebenskunst für die jüngeren Generationen’ von Raoul Vaneigem), sich auf den Mauern von Paris und verschiedener Provinzstädte wiederfinden, auf die sie von Anhängern der fortgeschrittensten Strömung des Maiaufstands übertragen wurden; die meisten dieser Thesen nahmen den meisten Platz auf den Mauern ein. Wie zu erwarten war, ist die situationistische Theorie eine praktische Kraft geworden, indem sie die Massen für sich gewann.

2. Kapitel:
Die Ursprünge der Agitation in Frankreich
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/S.17/
"Sicher, auch die Utopisten sind in der Lage, die tatsächliche Ausgangssituation richtig zu sehen. Wenn sie einfache Utopisten bleiben, dann deshalb, weil sie diese nur als eine Tatsache, bestenfalls als ein Problem sehen können, das es zu lösen gilt, ohne zu der Einsicht zu gelangen, dass die Lösung im Problem selbst liegt und ebenso der Weg, der zur Lösung führt.”
Georg Lukács, ‘Geschichte und Klassenbewusstsein’

 

/S.18/
 "Die Verweigerung, die in mehreren Ländern schon von breiten Kreisen der Jugend getragen wurde, vertrat in Frankreich nur eine sehr kleine Minderheit fortgeschrittener Gruppen. Man konnte weder eine Tendenz zur ökonomischen noch zur politischen ‘Krise’ beobachten. Die Agitation, die in Nanterre von vier oder fünf Revolutionären – sie bildeten später die Gruppe der ‘Enragés’ – ausgelöst wurde, sollte nach Ablauf von fünf Monaten eine fast vollständige Auflösung des Staates nach sich ziehen. Das gibt zu denken. Die tiefgreifende Krise, die also in Frankreich latent war, existiert ebenfalls in allen anderen modernen bürgerlichen Gesellschaften. Was fehlte, war das Bewusstsein einer wirklichen revolutionären Perspektive und ihre praktische Organisation. Niemals zuvor hat eine Agitation, die von einer so geringen Anzahl von Individuen unternommen wurde, innerhalb einer so kurzen Zeit so weitgehende Folge gezeitigt.

Das gaullistische System als solches hatte keine besondere Bedeutung für den Ursprung dieser Krise. Der Gaullismus ist nichts anderes als ein bürgerliches Regierungssystem, das an der Modernisierung des Kapitalismus arbeitet, genau wie die Doktrin der Labour-Party Wilson’s in England. Sein grundlegendes Kennzeichen und sein Erfolg beruhen auf der Tatsache, dass sich die Opposition in Frankreich noch mehr behindert sieht als anderswo, sich mit dem Ziel attraktiv zu machen, die gleiche Politik zu treiben. Man muss allerdings zwei besondere Züge festhalten: erstens ist der Gaullismus durch Komplotte und einen Militärputsch zur Macht gekommen, was ihm den Stempel einer gewissen Missachtung der Legalität aufdrückt, und zweitens hat sich de Gaulle immer um eine Art archaisches Prestige bemüht.

Ohne irgendeinen dramatischen Charakter zu zeigen, gingen die Modernisierung der französischen Wirtschaft und ihre Anpassung an den [europäischen] Gemeinsamen Markt doch nicht ohne eine gewisse Tendenz zur Rezession vor sich, ein leichtes Schrumpfen der

Reallöhne auf dem Umweg der Regierungsverordnungen über die Sozialversicherungen und eine Verschärfung der Beschäftigungslage besonders für die jungen Arbeiter. Das war der Vorwand für die exemplarische Auflehnung der Arbeiter in Caen im Januar [1968], wo die Arbeiter mit ihren Forderungen weit über die der Gewerkschaften hinausgingen und die Läden plünderten. Im März konnten die Metallarbeiter der Garnier-Werke in Redon alle Unternehmen der Stadt in ihren erfolgreichen Streik miteinbeziehen, indem sie eine eigene, gewerkschaftsunabhängige Assoziation bildeten und die Selbstverteidigung organisierten, um die CRS [Art frz. BGS-Sondereinsatzpolizeitruppe] zum Rückzug zu zwingen.

Die direkten Auswirkungen des Strasbourg-Skandals [Ende 1966] machten sich zuerst bemerkbar in der Universitätsstadt [= Studentenwohnheime] Jussieu in der Nähe von Lyon, deren Bewohner seit dem Frühjahr 1967 mehrere Wochen lang radikal jegliche Verordnungen aufgehoben hatten; auf diese Weise gingen sie hinaus über die akademische Debatte hinsichtlich einer Reform der antisexuellen Verfassung der Studentenwohnheime. Ab November 1967 beließen es ‘Studenten’ von Nantes nicht dabei. Nachdem sie sich der örtlichen UNEF (deren Vorsitzender Yvon Chotard wurde – siehe Auszüge aus ihren Thesen im Anhang) – wie in Strasbourg [im Sommer 1966] –, beschlossen sie die Schließung des örtlichen Universitätsbüros für psychologische Hilfe (BAPU). Danach organisierten sie wiederholte Male den wechselseitigen Besuch in den Studentenwohnheimen: erst die Jungen bei den Mädchen und dann umgekehrt. Als nächstes besetzten sie im Februar [1968] das Universitätsrektorat von Nantes, wobei es zu harten Zusammenstößen mit der Polizei kam. Der ‘Rivarol’ vom 3.März berichtete: ‘Man vergisst vielleicht zu oft, dass schon im Februar die Unruhen von Nantes das wahre Gesicht dieser ‘Situationisten’ zeigten, als 1 500 Studenten hinter schwarzen und roten Fahnen hermarschierten und den Justizpalast besetzten.’

Die Gruppe der ‘Enragés’ ["Wütende, Rasende, Entfesselte’ – so waren erstmals während der plebejischen Hochphase der Großen Französischen Revolution um 1793 die extremsten Radikalen links von den Jakobinern bezeichnet worden: Hébertisten, JacquesRoutins e.a.] bildete sich, als es zum Kampf gegen die Anwesenheit der Polizei auf dem Campus von Nanterre kam. Polizisten-in-Zivil wurden fotografiert. Ihre vergrößerten Porträts trug man am 26. Januar 1968 auf Schildern im Innern der Fakultät herum. Diese Aktion zog sofort auf den Appell des Dekans Grappin hin (er wurde ab diesem Zeitpunkt Knüppel-Grappin / Grappin-la-Matraque genannt) den Einsatz von rund 60 Polizisten in Uniform nach sich, die nach einer kurzen Auseinandersetzung zurückgeschlagen wurden. Alle Militanten der linksradikalen Gruppen - einige Hundert also - hatten sich dem ursprünglichen Kern angeschlossen. Dieser setzte sich zusammen aus den ‘Enragés’ im engeren Sinne und etwa zehn Anarchisten. Die ‘Enragés’ gehörten alle zu jenen, die vom aktuellen Universitätssystem nicht assimiliert werden konnten. Darüber hinaus hatten diese ‘Campus-Halbstarken’ ihre theoretische Übereinstimmung auf der Basis der Plattform der S.I: gefunden. Sie nahmen sich vor, systematisch die unerträgliche Ordnung der Dinge durcheinanderzubringen, angefangen bei der Universität.

Das Terrain provozierte allerdings auch in besonderem Maße die Revolte. Nanterre war modern - bei der Auswahl seiner Lehrstuhlinhaber eben - so wie in seiner Architektur. Dort feierten die Pedanten des unterworfenen Gedankens ihr Hochamt, die hochmütigen Rekuperatoren, die modernistischen Taugenichtse der sozialen Integrierung, die Lefebvres und Touraines (Alain Touraine hatte schon Ende der fünfziger Jahre entdeckt, dass das Proletariat verschwunden sei. Er besteht im Juli 1968 weiterhin darauf: ‘Ich wiederhole es: die Arbeiterklasse als solche ist in Frankreich keine revolutionäre Klasse mehr.’). Die Szenerie war dementsprechend: den Trabantensiedlungen und den Slums, welche die komplementäre Ergänzung zu den ersteren bilden, hatte der Urbanismus der Isolierung ein Universitätszentrum aufgepfropft, als Mikrokosmos der allgemeinen Unterdrückungsverhältnisse, als Geist einer geistlosen Welt.

Das Programm, die Spezialisten der Fälschung also nicht mehr ex cathedra sprechen zu lassen und die endlosen Betonmauern für einen kritischen Vandalismus zu benutzen, wirkte wir eine Explosion. Das war ein Ausweg, dem sterilen Protest zu entgehen, der seit Jahren immer wieder bis zum Überdruss gegen die Internatsschikanen in den Studentenwohnheimen oder gegen die Fouchet-Reform [des Bildungsministeriums] erhoben wurde, was die Lieblingsthemen der [Studentengewerkschaft] UNEF und all derer waren, die deren Führung begehrten.

Als die Enragés begannen, die Vorlesungen der Soziologen - und einiger anderer - zu unterbrechen, reagierten die UNEF und ihre linksradikalen Unterwanderer entrüstet. Verschiedene Male versuchten sie, die Professoren in Schutz zu nehmen. Die Anarchisten verhielten sich neutral, obwohl auch sie einige Ambitionen auf das lokale Büro der UNEF hegten. Unter ihnen war Daniel Cohn-Bendit, der sich bereits dadurch eine Art Ruf erworben hatte, dass er sich dafür entschuldigte, einen Minister beleidigt zu haben, und der trotzdem von einem Ausschluss aus der UNEF, der er angehörte, bedroht war: jener Antrag war von den Trotzkisten der späteren ‘Föderation revolutionärer Studenten’ (FER, damals CLER) gestellt worden. Nur weil Cohn-Bendit als deutscher Staatsangehöriger vor die Ausweisungsbehörde der Polizeipräfektur zitiert wurde, zog die CLER ihren Antrag zurück. Eine gewisse politische Agitation machte sich bereits als Echo auf die Skandale der Enragés breit. Die Sitte, innerhalb der Räume Flugblätter zu verteilen, bürgerte sich ein. Das Lied der Enragés über Grappin, die berühmte ‘Grappignole’, ihr erstes Plakat in Form eines Comics erschien anlässlich des ‘Nationalen Tages’ der Besetzung der Studentenwohnheime am 14. Februar. Von allen Seiten wurden die Stimmen lauter.

Am 21 Februar vergoss der ‘Nouvel Observateur’ Krokodilstränen in einem Artikel über Nanterre: ‘Die Linke ist auseinandergefallen’; und das bis hin zur ‘Gruppe der Enragés, die aus kaum drei oder vier Vertretern der situationistischen Internationalen besteht.’ Am selben Tag präzisierte ein Flugblatt der Enragés, ‘dass sie nie der Situationistischen Internationale angehört hatten und infolgedessen diese nicht repräsentieren konnten. Die Repression hätte ein zu leichtes Spiel, wenn jede auch nur etwas radikale Manifestation auf irgendeinem Campus die Folge einer situationistischen Verschwörung wäre. (…) Nach dieser Klarstellung wiederholen wir bei dieser Gelegenheit unsere Sympathie für die situationistische Kritik. Man wird anhand unserer Aktionen unsere Übereinstimmung mit der radikalen Theorie beurteilen können.’

Am 22. März besetzten die linksradikalen Gruppen das Verwaltungsgebäude und hielten im Saal des Fakultätsrats eine Sitzung ab, um gegen die Festnahme von sechs ‘antiimperialistischen Militanten’ in Paris zu protestieren. Im Namen der Enragés forderte René Riesel sofort, zwei Beobachter der Verwaltung und die wenigen anwesenden [KPF-] Stalinisten hinauszuwerfen. Als ein verantwortlicher Anarchist und ständiger Mitarbeiter Cohn-Bendits die Meinung vertrat, dass ‘alle heute Abend hier anwesenden Stalinisten keine Stalinisten mehr sind’, verließen die Enragés sofort die Versammlung, um gegen diese feige Illusion zu protestieren. Obendrein war ihnen vorgeworfen worden, dass sie die Räumlichkeiten plündern wollten. Sie machten sich daraufhin daran, ihre Slogans auf alle Mauern zu schreiben (‘Macht eure Wünsche zur Wirklichkeit’ – ‘Die Langeweile ist konterrevolutionär’ - ‘Die Gewerkschaften sind Bordelle’ - ‘Arbeitet nie’), was den Auftakt zu einer neuen Art von Agitation bildete, die sich wie ein Strohfeuer verbreitete und die eines der originellsten Kennzeichen der Periode der Besetzungen werden sollte. Der Zusammenschluss verschiedener Elemente aus diversen linksradikalen Gruppen begann an diesem Abend ohne die Enragés und gegen sie. In den folgenden Wochen /S.24/ erhielt dieses Konglomerat von der Presse verschiedene aufeinanderfolgende Benennungen, so zuerst ‘Bewegung der 142’, dann ‘Bewegung des 22.März’.

Die Bewegung des 22.März war von Anfang an ein eklektisches Konglomerat von einzelnen Individuen, die sich ihr auf eigene Rechnung anschlossen. Alle waren sich über die Tatsache einig, dass es ihnen unmöglich war, sich über einen einzigen theoretischen Punkt zu verständigen, und setzten auf ‘die gemeinsame Aktion’, um diesen Mangel zu überwinden. Es bestand nichtsdestotrotz ein Konsens über zwei Punkte, von denen einer eine lächerliche Banalität und der andere ein neuer Anspruch war. Die Banalität, das war der antiimperialistische ‘Kampf’, ein Erbgut der zu Ende gehenden Epoche der [linken] Grüppchen mit ihrer rein kontemplativen Auffassung: Nanterre, das Vietnam der Vorstädte, das entschieden den gerechten Kampf des aufständischen Boliviens unterstützt. Neu war die direkte Demokratie innerhalb der Organisation. Allerdings wurde diese Absicht im ‘22.März’ nur sehr bruchstückhaft verwirklicht, was auf die Tatsache der doppelten Mitgliedschaft der meisten ihrer Anhänger zurückzuführen ist, die meist diskret verschwiegen bzw. nie beachtet wurden. Es gab Maoisten, JCR-Mitglieder [=Trotskisten] sowie Anarchisten jeder Art /S.26/ - von den Resten der Anarchistischen Föderation (FA) bis zu den Aktivisten der ‘Iberischen Föderation der Libertären Jugend’ (FIJL) - und obendrein verdächtige bis lächerliche Mitglieder der ‘Gruppe für die institutionelle Forschung’ (FGERI). (In diesem Eintopf gab es nie einen einzigen Situationisten, im Gegensatz zu der Lüge Émile Copfermanns in seinem Vorwort zu der vom 22.März veröffentlichten Sammlung von Ungereimtheiten unter dem Titel: ‘Ce n’est qu’un début, continuons le combat’ im Verlag Maspéro.)

Daniel Cohn-Bendit selbst gehörte zur halbtheoretischen Gruppe der Autonomen Anarchisten um die Zeitschrift ‘Rouge et Noir’ (…); er selbst war wirklich revolutionärer als der ganze Rest der Bewegung [des 22.März], deren Sprecher er wurde und die er deshalb unterstützen musste. (In vielen Interviews machte Cohn-Bendit Konzessionen an den Maoismus, so z.B. im ‘Magazin Littéraire’ vom Mai 1968: ‘Der Maoismus? Ich weiß eigentlich nicht so genau, was das ist. Ich habe ‘Sachen’ von Mao gelesen, die sehr wahr sind. Seine These, nach der man sich auf die Bauern stützen soll, ist immer eine anarchistische gewesen.’) Von ungenügender Intelligenz, unklar informiert über die theoretischen Probleme der Epoche durch die Vermittlung anderer; geschickt genug, um ein Publikum von Studenten zu unterhalten; offen genug, um auf der Ebene der politischen Manöver der Linken einen weißen Fleck zu bilden; geschmeidig genug, um mit ihren Verantwortlichen Kompromisse schließen zu können, war er ein ehrlicher Revolutionär, wenn auch ohne Genie. Er wusste viel weniger als er hätte wissen müssen, und von dem, was er wusste, hat er nicht den besten Gebrauch gemacht. Obendrein akzeptierte er ohne wirkliche Kritik die Rolle des Stars, der sich den ein- und ausgehenden Reportern der spektakulären Information stellte. Deshalb musste er natürlich zusehen, wie seine Äußerungen, die immer Klarsicht und einige Dummheiten miteinander verquickten, im Sinne der letzteren verdreht wurden, /S.28/ was dieser Art von Kommunikation inhärent ist. Noch im April erklärte er jedem, der es hören wollte, dass er ein Gemäßigter und keineswegs ein ‘Enragé’ sei. Das war zu jenem Zeitpunkt, als im Gefolge eines Ministers die Presse damit begann, alle Unzufriedenen von Nanterre als ‘Enragés’ zu bezeichnen.

Innerhalb weniger Tage hatte der 22.März den grundlegenden Erfolg erzielt, den die gesamte Bewegung [der Besetzungen] ihm tatsächlich verdankt. Dieser steht in keinem Verhältnis zu seinem Geschwätz über die ‘kritische Universität’, das von den deutschen und italienischen Beispielen, die bereits die Nichtigkeit dieses Modells deutlich gemacht hatten, hergeleitet wurde. (Alle die soziologisch-journalistischen Lobeshymnen über die ‘Originalität’ des’22.März’ maskieren die einfache Tatsache, dass dessen in Frankreich neues linksradikales Gemisch die direkte Kopie der SDS [‘Students for a Democratic Society’] in USA darstellte, einer Studentenvereinigung, die gleichfalls eklektisch, demokratisch und oft von verschiedenen alten linken Sekten unterwandert war. Die ‘Sunday Times’ vom 24.Juli, welche die Thesen der S.I. mit völligem Unverständnis darlegt - die sie im Übrigen als ‘die wahrscheinlich fortgeschrittenste radikale Fraktion’ darstellt -, bemerkt nichtsdestoweniger, dass Cohn-Bendit, verglichen mit solchen ‘Absolutisten’, ein ‘überholter Konservativer’ ist.) /S.29/ Während alle Anstrengungen seiner Kommission ‘Kultur und Kreativität’ niemals über die Grenzen eines revolutionaristischen Ästhetizismus hinausgegangen sind, den belanglose Spuren eines ‘Situationismus’ nicht interessanter machen konnten, führte das einfach dumm ‘antiimperialistische’ Projekt, am 29.März ein Meeting in Nanterre abzuhalten, den Dekan Grappin zur ersten und schwerwiegendsten Maßnahme einer Reihe von administrativen Fehlgriffen, die eine rasche Ausbreitung der Agitation erlaubte. Grappin schloss seine Fakultät für zwei Tage. Der drohende Schatten einer Handvoll Enragés wurde von diesem Zeitpunkt an ein Schreckgespenst auf nationaler Ebene.

Die [KPF-Zeitung, das stalinistische Zentralorgan] ‘L’Humanité’ gehört zu jenen, welche die Ereignisse am unruhigsten beobachteten. Sie denunzierte am 29.März die ‘Kommandoaktionen einer kleinen Gruppe von Anarchisten und "Situationisten”. Eine ihrer Hauptthesen verunziert in riesigen Lettern die Fassade der Fakultät. "Arbeitet nicht!” Für diese rund vierzig Studenten, besteht die ganze Propagandaarbeit seit Wochen darin, in die Seminare und Übungen ‘einzugreifen’, die Gebäude zu besetzen und gegebenenfalls ihre Mauern mit gigantischen Inschriften zu bedecken. Wie konnten diese etwa vierzig unverantwortlichen Elemente Entscheidungen provozieren, deren Folgen 12 000 Studenten der Geisteswissenschaften und 4 000 Jurastudenten betreffen?

Die Repression, die in diesem Moment begann, kam zu spät. Zweifellos konnte ein Mitglied der Gruppe der Enragés, Gérard Bigorgne, am 1.April von allen französischen Hochschulen und Universitäten ausgesperrt werden, ohne dass die Gruppe 22.März, ihre Journalisten, geschweige denn irgendeine andere linke Gruppe, dies auch nur erwähnten. Aber andere Faktoren führten dazu, dass die Protestwelle immer mehr Studenten in Paris ergriff (…) Der 22.März und die UNEF riefen für Freitag den 3.Mai zu einer Vollversammlung im Hof der [Pariser Universität] Sorbonne auf. Bei dem Versuch, dieses Meeting aufzulösen, trafen die Behörden auf die bereits angesammelte Kraft [pouvoir?] der Bewegung und gaben dieser die Gelegenheit, die entscheidende Schwelle zu überschreiten. Wie sehr eine solche Entwicklung den spezialisierten Beobachtern unmöglich schien, davon gibt die feine Prophetie des lächerlichen Escarpit in der am selben Tag erschienenen LeMonde ein vollendetes Beispiel: ‘Nichts ist weniger revolutionär, nichts konformistischer als die Pseudo-Wut eines Krakeelers, selbst wenn er seine Mandarinoklastie [= Anstürmen gegen Hochschullehrer, Publizisten und Geisteszelebritäten, d.h. jenes links-liberale Establishment "des Geistes”, welches von Simone de Beauvoir in "Les Mandarins de Paris” beschrieben worden ist] in das Gewand einer marxistischen oder situationistischen Terminologie hüllt.

3. Kapitel:
Die Strassenkämpfe
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/S.31/
‘Ich weiß, dass sie Ihnen nichts gelten, weil der Hof bewaffnet ist; aber ich bitte sie mir zu erlauben Ihnen zu sagen, dass sie einem jedes Mal wenn sie sich selbst für alles nehmen, mehr gelten müssen. Sie sind dahin gelangt: sie fangen selbst an Ihre Armeen für nichts zu halten, und das Unglück ist, dass ihre Stärke in ihrer Vorstellungskraft liegt; und man kann wahrhaftig sagen, dass sie im Unterschied zu allen anderen Mächten ab einem gewissen Punkt alles vermögen was sie glauben zu vermögen.’
Kardinal de Retz: Memoiren

 

/S.32/ Eigentlich war das Meeting vom 3. Mai banal. Wie gewöhnlich hatten 300 bis 400 Teilnehmer auf den Appell geantwortet.- Einige Dutzend Faschisten der Gruppe "Occident!” hatten am frühen Nachmittag auf dem Boulevard St. Michel eine Gegendemonstration organisiert. Mehrere "Wütende”, die in der Sorbonne anwesend waren, riefen zur Selbstverteidigung auf.

Man musste Möbel zerschlagen, um die fehlenden Knüppel zu ersetzen. Der Rektor Roche und seine Polizisten -hielten diesen Vorwand für ausreichend, um rücksichtslos durchzugreifen. Die Polizei und die motorisierte Gendarmerie drangen in die Sorbonne ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Studenten wurden im Hof eingeschlossen. Man schlug ihnen vor, sich freiwillig zurückzuziehen. Sie nahmen diesen Vorschlag an, und in der Tat ließ man die ersten passiere: Der Vorgang nahm einige Zeit in Anspruch, und andere Studenten begannen, sich im Viertel zu sammeln. Die letzten zweihundert Demonstranten der Sorbonne, darunter alle Verantwortlichen, wurden festgenommen. Mit der Fahrt der Wagen, /S.33/ die sie abtransportierten, erhob sich das Quartier Latin. (Einer dieser Wagen konnte nicht alle Gefangenen am Bestimmungsort abliefern. Sie waren nur von drei Polizisten bewacht. Diese wurden belästigt, und einige Dutzend Demonstranten entkamen.).

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit widersetzten sich in Paris einige Tausend Demonstranten so lange und so energisch der Polizei. Ständig neuen Einsatzkommandos - die von einem Hagel von Pflastersteinen begrüßt wurden - gelang es mehrere Stunden lang nicht, den Boulevard St. Michel und die anliegenden Straßen zu räumen. 600 Personen wurden von der Polizei aufgegriffen. /S.36/

Als sofortige Reaktion darauf riefen die nationale Gewerkschaft der Hochschulen, und Universitäten, gefolgt von der UNEF, zum unbefristeten Streik im Hochschulwesen auf. Die Verurteilung von vier Demonstranten zu Gefängnisstrafen, die am Sonntag, dem 5.Mai verhängt wurden, trug verstärkt dazu bei, die Demonstration, die für den 6. Mai vorgesehen war, um den Universitätsrat unter Druck zu setzen, zu radikalisieren.

Die Stalinisten taten natürlich ihr Bestes, um die Bewegung auseinanderzubrechen. Der Leitartikel von G. Marchais am 3. Mai in der "Humanité” der diese Politik auf einem fast parodistischen Niveau darlegte, stieß die Masse der Studenten vor den Kopf. Von diesem Augenblick an wurde den Stalinisten in allen Agitationszentren, die die Studentenbewegung schaffen sollte, das Wort verboten.

Der ganze 6. Mai war von Demonstrationen gekennzeichnet, die am frühen Nachmittag in einen Aufstand übergingen. Die ersten Barrikaden wurden auf dem Platz Maubert errichtet und drei Stunden lang verteidigt.

Gleichzeitig kam es zu Kämpfen auf dem unteren Boulevard St.Michel, auf dem Place du Chatelet, dann in der Gegend um die Hallen. Zu Beginn des Abends hielten die Demonstranten - mehr als zehntausend an der Zahl - hauptsächlich die Gegend um den Platz St. Germain besetzt, wo sich ihnen der größte Teil des von der UNEF organisierten Demonstrationszuges - von Denfert-Rochereau kommend - erst gegen 18 Uhr anschloss. (Dazu muss man feststellen, dass sich zwischen der Haltung der Organisatoren und dem tatsächlichen Kampf, der schon seit Stunden im Gang war, eine bestimmte Diskrepanz auftat. "In den anliegenden Gebieten des Platzes Denfert-Rochereau, wo man keine Polizisten sehen kann, ... werden Barrikaden mit Hilfe von Materialien aus den anliegenden Baustellen errichtet, trotz der Einwürfe des Ordnungsdienstes der UNEF und verschiedener anderer Studentenorganisationen.” berichtet Le Monde vom 8. Mai.) "Was folgen wird”, schrieb "Le Monde” vom 8. Mai, "wird an Gewalt und Umfang alles übertreffen, was an diesem Tag passiert ist, der bereits in jeder Hinsicht erstaunlich war. Es wird eine Art Straßenkampf geben, der manchmal in eine Art Raserei übergeht, wo jeder Schlag sofort mit einem Gegenschlag beantwortet, wo das gerade eroberte Gebiet sofort wieder verloren wird. .. Dramatische Momente, ohne Vernunft, wo es dem Beobachter schien, dass ein Hauch von Wahnsinn in der Luft lag.” Und "L‘Aurore” vom 7. Mai bemerkt: "Man sieht an Seiten der Demonstranten mit Eisenstangen bewaffnete Rocker, die aus den Vororten ins Pariser Zentrum gekommen sind, um den Studenten ihre tatkräftige Unterstützung zu erweisen.” Die letzten Zusammenstöße setzten sich bis nach Mitternacht fort, besonders in Montparnasse.

Zum ersten Mal wurden Autos quer über die Straße gekippt und angesteckt Pflastersteine aus den Straßen gerissen und zum, Bau von Barrikaden benutzt und Läden geplündert. Die Praxis dieser subversiven Aufschriften, die bereits in Nanterre erprobt worden waren, begann an diesem Tag sich auf verschiedene Viertel von Paris auszubreiten. In dem Maße, /S.39/ wie sich die Barrikaden und die Wirksamkeit des Gegenangriffs der Meuternden verstärkten, waren die Polizeikräfte gezwungen, ihre Taktik des direkten Einsatzes zugunsten eines Positionskampfes aufzugeben, bei dem sie in erster Linie Handgranaten und Tränengas einsetzten.

Dieser Tag ist weiterhin gekennzeichnet durch den ersten Eingriff der Arbeiter in den Kampf, der Gymnasiasten, die seit dem Morgen bedeutende Demonstrationen organisiert hatten, der Rocker und der jungen Arbeitslosen. Die Spontaneität und Gewalt dieser Folge von Meutereien stand in heftigem Gegensatz zu der Plattheit der Ziele und Parolen, die von den studentischen Initiatoren vorgeschlagen worden waren. ("Stoppt die Repression” "Befreit unsere Genossen”, "Roche muss weg!” "Recht auf Gewerkschaften‘, "Die Sorbonne den Studenten”. Dieselbe Rückständigkeit kann man in dem Tonfall der Erklärung des nationalen Büros der FER entdecken, die am Tag danach "die Tausende von Studenten und jungen Arbeitern grüßt, die dem Aufruf der UNEF gefolgt sind und sich den ganzen Montag den Kräften der Repression des gaullistischen Staates zur Verteidigung der demokratischen und gewerkschaftlichen Freiheit widersetzt haben.”). Und schon die Tatsache, dass sich Rocker unter dem Kampfruf "Die Sorbonne den Studenten” hatten schlagen können, zeigte das Ende einer ganzen Periode an. Acht Tage später waren diese politisierten Rocker selbst in der Sorbonne.

Die UNEF, die während der Demonstrationen nicht aufgehört hatte, die Gewalttätigkeiten zu verurteilen, sah sich dann jedoch schon am Tag darauf gezwungen, verbal ihre Haltung zu ändern, um dem völligen Misskredit zu entgehen und um auf diese Weise ihre mäßigende Tätigkeit fortsetzen zu können. Dagegen ließen die Stalinisten der CGT brennen, was nicht zu retten war. Sie zogen es vor, sich vollständig von der Masse der Studenten abzusondern, um so weiterhin ihre Kontrolle über die isoliert gehaltenen Arbeiter ausüben zu können. Seguy tat in einer Pressekonferenz am Morgen des 7. Mai kund: "Keine Nachsicht mit den zweideutigen und provokativen Elementen, die die Arbeiterklasse verleumden, sie als verbürgerlicht anklagen und die den maßlosen Anspruch erheben, ihr die revolutionäre Theorie aufzuzwingen und ihren Kampf zu führen. Zusammen mit anderen Gauchisten gehen einige Elemente daran, die studentische Gewerkschaftsbewegung von ihrem Inhalt als eine Massenbewegung zur Durchsetzung demokratischer Forderungen zu entleeren, zum Schaden der UNEF. Ihre Aktionen aber geschehen zur Zufriedenheit der Regierung.” In eben diesem Zusammenhang konnten Geismar, Sauvageot und Cohn-Bendit die scheinbaren Führer einer Bewegung ohne Führer werden. Presse, Rundfunk und Fernsehen, die nach den Chefs suchten, fanden keine anderen als sie.

Sie wurden die unzertrennlichen, photogenen Stars eines Spektakels, das hastig der revolutionären Wirklichkeit übergestülpt wurde. Dass sie diese Rolle übernahmen, führte dazu, dass sie im Namen einer Bewegung sprachen, die sie nicht verstanden. /S.40/ Sicher, um dies zu tun, mussten sie auch den größten Teil der revolutionären Tendenzen in dem Maß akzeptieren, wie sie sich in ihr manifestierten (Cohn-Bendit war derjenige, der den radikalen Inhalt ein wenig besser widerspiegeln konnte). Aber diese heilige Familie des improvisierten Neogauchismus konnte nichts als die spektakuläre Entstellung der wirklichen Bewegung sein und stellte so auch deren verzerrtes Bild dar. Ihre ohne Unterlass den Massenmedien präsentierte Dreieinigkeit war in der Tat das Gegenteil der wirklichen Kommunikation, nach der man im Kampf suchte und die man in ihm verwirklichte.

Dieses Trio voll ideologischem Charme konnte offensichtlich im Bildraster nur das Akzeptable - also das Entstellte und Rekuperierte - sagen, das, was eine solche Übermittlungsform erträgt; während jedoch gerade der Sinn des Augenblicks, der sie aus dem Nichts geschleudert hatte; das rein Unakzeptable war.

Die Demonstration des 7. Mai wurde so gut von der UNEF und ihren eifrigen Unterwanderern in Beschlag genommen, dass sie sich auf einen Spaziergang ohne Ende beschränkte - entlang der völlig abwegigen Route Denfert-Rochereau bis Etoile und wieder zurück. Die Organisatoren verlangten nur die Wiedereröffnung der Sorbonne, den Abzug der Polizisten aus dem Quartier Latin und die Freilassung der verurteilten Studenten. Sie trugen die folgenden beiden Tage weiterhin zur Unterhaltung des Publikums bei, wobei es nur zu geringfügigen Zusammenstößen kam. Aber die Regierung zögerte, ihre bescheidenen Forderungen zufriedenzustellen. Sie versprach schon, die Sorbonne wieder zu eröffnen, aber Geismar und Sauvageot, die bereits von der ungeduldigen Basis des Verrats bezichtigt wurden, hatten ankündigen müssen, dass das Gebäude Tag und Nacht besetzt werden würde, um ein Sit-in über "die Probleme der Universität” zu ermöglichen. Unter diesen Umständen erhielt der Minister Peyrefitte die Bewachung der Sorbonne durch die Polizisten aufrecht und eröffnete Nanterre wieder, als Test, um den "guten Willen” der Studenten zu prüfen.

Am Freitag, dem 10.Mai vereinigten sich noch einmal mehr als 20. 000 Personen auf dem Platz Denfert-Rochereau. (Der Universitätsrat, der an diesem Tag seine Sitzung über die Nanterre-Affäre abhalten sollte, beschloss, diese zu verschieben, weil die Aufrechterhaltung der notwendigen, ernsthaften Atmosphäre nicht mehr gesichert war. Vom 6. Mai an war ein anonymes Flugblatt verteilt worden, das die Überschrift "Universitätsrat Paris, Gebrauchsanweisung” trug und die Privatadressen und Telefonnummern aller seiner Mitglieder bekanntgab. Die Erklärung René Riesels "Das Schloss brennt” konnte also den Richtern nicht vorgelesen werden; sie wurde nur an die Demonstranten verteilt.) /S.41/ Die bekannten Organisatoren diskutierten über den Ort, wohin sie die Demonstranten führen könnten. Nach einer langen Debatte entschlossen sie sich für die ORTF - aber vorher sollte auf einem Umweg am Justizministerium vorbeigezogen werden. Im Quartier Latin angekommen, fanden die Demonstranten alle Auswegmöglichkeiten in Richtung Seine versperrt, was einer schon absurden Route noch den Todesstoß versetzte. Sie entschlossen sich, solange im Quartier Latin zu bleiben, bis ihnen die Sorbonne wieder übergeben würde. Gegen 21 Uhr begann man spontan mit dem Bau von Barrikaden. Jeder erkannte darin sofort die Verwirklichung seiner Wünsche. Niemals hatte sich die Zerstörungsleidenschaft schöpferischer gezeigt. Alle liefen zu den Barrikaden.

Den Führern war das Wort genommen. Sie mussten die vollendete Tatsache akzeptieren und versuchten dümmlich, das Ganze zu bagatellisieren.

Sie riefen, dass die Barrikaden nur defensiv seien, dass man die Po1izei nicht provozieren würde! Zweifellos hatten die Ordnungskräfte einen schweren technischen Fehler begangen, als sie den Barrikadenbau zuließen, ohne sofort das Risiko eines Angriffs zur Aufhebung derselben auf sich zu nehmen. Aber die Errichtung eines Systems von Barrikaden, das solide ein ganzes Viertel umschloss, war bereits in sich ein unverzeihlicher Schritt hin zur Verneinung des Staates: Jede beliebige Form von Staatsmacht war gezwungen, /S.42/ die Barrikadenzone, die sich ihrer Macht entzogen hatte, so schnell wie möglich zurückzuerobern, oder zu verschwinden. (Aufgrund dieser übermäßigen ideologischen Verzerrung und ihres Missbrauchs durch ihre Wortführer glaubten sehr viele Leute auf den Barrikaden, dass die Polizei darauf verzichten könnte, diese anzugreifen.)

Das Barrikadenviertel erstreckte sich vom Boulevard St. Michel im Westen, der Rue Claude Bernard im Süden, der Rue Mouffetard im Osten, der Rue Soufflot und dem Platz des Pantheon im Norden, Linien, die die Verteidiger besetzten, ohne sie zu kontrollieren. Seine Hauptadern waren die Rue Gay-Lussac, die Rue Lhomond und die Rue Tournefort in nordwest-südöstlicher Richtung, sowie die Rue d‘ Ulm in nord-südlicher Richtung. Die Rue Pierre Curie und die Rues des Ursulines-Thuillier waren seine einzigen Verbindungslinien von Osten nach Westen. Das Viertel erlebte in der Hand der Aufständigen von 10 Uhr abends bis 2 Uhr morgens eine unabhängige Existenz. Gegen 2 Uhr 15 griffen die Ordnungskräfte ein, die das Viertel von allen Seiten umzingelten; es gelang den Besetzern, sich mehr als drei Stunden lang unter ständigem Terrainverlust im Westen zu verteidigen. In der Nähe der Rue Mouffetard dauerte der Widerstand bis 5 Uhr 30 morgens an. /S.44/

Zum Zeitpunkt des Angriffs hielten sich zwischen 1.500 und 2.000 Aufständische in diesem Gebiet auf; die Studenten unter ihnen machten weitaus weniger als die Hälfte aus. Eine beträchtliche Anzahl von Gymnasiasten und Rockern sowie einige Hundert Arbeiter (und nicht nur junge) waren anwesend. Das war die Elite: die Unterwelt. Viele Ausländer, viele Mädchen nahmen am Kampf teil. Die revolutionären Elemente fast aller gauchistischen Gruppen waren vertreten; besonders eine große Anzahl von Anarchisten, von denen einige sogar der FA angehörten; sie schwangen schwarze Fahnen, die seit dem 6. Mai immer häufiger auf der Straße auftauchten und verteidigten verbissen ihre Hochburg an der Kreuzung der Rue de l´Estrapade, Rue Blainville und der Rue Thouin. Die Bevölkerung des Viertels bezeugte den Aufständischen ihre Sympathie, obwohl diese ihre Autos in Brand steckten. Sie brachte ihnen Essen, kippte Wasser auf die Straßen, um die Wirkung der Gase abzumildern und bot ihnen schließlich Asyl an. Die sechzig Barrikaden, darunter zwanzig sehr stabile, erlaubten eine relativ langfristige Verteidigung und einen Rückzug im Kampf, allerdings innerhalb eines begrenzten Terrains. Die unzureichende, improvisierte Bewaffnung und vor allem die fehlende Organisation verhinderten es, /S.46/ Gegenattacken und Manöver in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, die Kampfzone zu erweitern; so waren die Meuterer wie in einem Fischernetz gefangen.

Die letzten Hoffnungen derer, die darauf aus waren, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, brachen in jener Nacht zusammen; sie dankten verschämt ab oder erwiesen sich als völlig machtlos. Die FER, die die am besten organisierte Truppe besaß, ließ ihre 500 Militanten bis zu den Barrikaden marschieren, um dort zu erklären, dass es sich um eine Provokation handele und dass man deshalb gehen müsse. Das machten sie dann auch, die rote Fahne an der Spitze. Während dieser Zeit gaben Cohn-Bendit und Sauvageot - immer noch Gefangene ihrer Starverpflichtungen - dem Rektor Roche zu verstehen, dass die Polizei sich aus dem Viertel zurückziehen müsse, "um jedes Blutvergießen zu vermeiden”. Diese extravagante Aufforderung, die in einem solchen Moment an einen Beamten /S.47/ zweiten Ranges gestellt wurde, war dermaßen von den Ereignissen überrollt, dass sie nur eine Stunde lang die Illusionen der Allernaivsten aufrechterhalten konnte. Roche empfahl denjenigen, die mit ihm reden wollten, einfach, die "Studenten” nach Hause zu schicken.

Die Schlacht wurde sehr hart. Den CRS, der Polizei und der mobilen Gendarmerie gelang es, die Barrikaden durch eine intensive Bombardierung mit Brandbomben, Handgranaten und Chlorgas unhaltbar zu machen, bevor sie sich daran wagten, sie im Sturm zu nehmen. Die Aufständischen antworteten mit Pflastersteinen und Molotow-Cocktails. Sie steckten die Wagen in Brand, kippten sie um und stellten sie im Zick-Zack auf, um den Vormarsch des Feindes hinauszuzögern; einige stiegen auf die Dächer, um von dort aus alle möglichen Wurfgeschosse hinabzuwerfen. Bei verschiedenen Gelegenheiten musste die Polizei zurückweichen. Meistens steckten die Revolutionäre die Barrikaden, die sie nicht mehr halten konnten, in Brand.

Es gab mehrere Hundert Verletzte und 500 Festnahmen. Vier oder fünf Aufständische wurden von der Ecole Normale Superieure, Rue d‘Ulm aufgenommen, in die die Polizei nicht einzudringen wagte. 200 oder 300 konnten sich in die Rue Monge zurückziehen, fanden Zuflucht bei Bewohnern des Viertels oder konnten über die Dächer fliehen. Bis gegen Ende des Vormittags kämmte die Polizei das Viertel durch, schlug alle brutal nieder und nahm jeden fest, der ihr verdächtig erschien.

4. Kapitel:
Die Besetzung der Sorbonne
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/S.51/
"Sie ist der Ort, wo die objektiven Bedingungen des geschichtlichen Bewusstseins vereint sind; die Verwirklichung der aktiven unmittelbaren Kommunikation, wo die Spezialisierung, die Hierarchie und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen in ”Bedingungen der Einheit« umgewandelt werden. … Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits verneint. … Das Auftauchen der Räte war die höchste Wirklichkeit der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine Wirklichkeit, die unbemerkt blieb und entstellt wurde, weil sie mit dem Rest der Bewegung verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen geschichtlichen Erfahrung verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen Moment der proletarischen Kritik kehrt dieses Ergebnis als der einzige unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung wieder. Das geschichtliche Bewusstsein, das weiß, dass es in ihm das einzige Milieu seiner Existenz hat, kann ihn jetzt wiedererkennen, aber nicht mehr an der Peripherie dessen, was zurückgeht, sondern im Zentrum dessen, was kommt.”
Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels [Thesen 116-118]

 

/S.52/

Die Nacht der Schlacht rund um die Rue Gay-Lussac rief im ganzen Land Bestürzung hervor. Die Empörung, die ein großer Teil der Bevölkerung bald empfand, wandte sich nicht gegen die Aufständischen, trotz der weitgehenden Verwüstungen, die sie angerichtet hatten, sondern gegen die gewalttätigen Ausschreitungen der Ordnungskräfte: Im Radio war die ganze Nacht Minute für Minute über die Bedingungen berichtet worden, unter denen das abgeschirmte Viertel sich verteidigt hatte und unter denen es schließlich erobert worden war. Man wusste vor allem, dass eine große Anzahl Schwerverletzter Stunden hindurch nicht versorgt werden konnten, weil die Belagerer ihre Evakuierung untersagten. Man warf ihnen auch vor, reichlich von einem neuen und gefährlichen Gas Gebrauch gemacht zu haben, obwohl die verantwortlichen Behörden dies zuerst abgestritten hatten. Schließlich war die Überzeugung allgemein verbreitet, dass es eine Reihe von Toten gegeben hatte, die die Polizei, die schließlich Herrin über das besetzte Gebiet geworden war, hatte verschwinden lassen. (Diese Tatsache konnte nicht bewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeit der Hypothese beruht auf zwei Überlegungen: einerseits ist es wenig wahrscheinlich, dass von so vielen Schwerverletzten, die erst sehr spät versorgt wurden, keiner gestorben ist; andererseits ist es ebenso unwahrscheinlich, dass die Regierung den am gleichen Abend von ihr, versuchten, bedeutenden und risikoreichen Rückzieher unternahm, ohne spezielle Informationen über die schweren Auseinandersetzungen zu berücksichtigen. Es steht außer Frage, dass ein moderner Staat einige Tote vertuschen kann. Natürlich nicht, indem er diese für "vermisst” erklärt, aber z. B., indem er sie - wie einige behauptet haben -, als Unfallopfer auf den Landstraßen außerhalb von Paris erklärt.)

Schon am 11. Mai riefen alle Gewerkschaftsführungen zu einem eintägigen Generalstreik für den 13.Mai auf. Es handelte sich für sie darum, einen Schlussstrich unter diese Bewegung zu setzen, indem sie aus einer nur oberflächlich ‘gegen die Repression’ behaupteten Solidarität ein Maximum zogen. Die Gewerkschaften sahen sich auch zu dieser Geste gezwungen, da sie den tiefen Eindruck feststellen konnten, den dieser direkte Kampf, der seit Anfang der Woche in Gang war, auf die Arbeiter machte. Schon ein solches Beispiel bedrohte ihre Autorität. Ihr Rekuperationsstreik ließ die gesetzlich festgelegte Ankündigungsfrist außer Acht: das war das einzige Subversive an ihm.

Die Regierung hatte zunächst am frühen Morgen beim Fall des Barrikadenviertels mit einem Kommuniqué reagiert, das auf ein Komplott hindeutete und Sanktionen androhte; angesichts des massiven Protestes aber entschloss sie sich zu einer völligen Kehrtwende. Der Premierminister Pompidou, am Samstagabend aus Afghanistan zurückgekehrt, spielte hastig die Karte der Beschwichtigung aus. Er kündigte an, dass alle verurteilten Studenten nach einem neuen Prozess, der sofort stattfinden sollte, freigelassen würden; /S.53/ was tatsächlich geschah. Dabei überging Pompidou jede heuchlerische Rücksicht auf die prinzipielle Unabhängigkeit des Magistrats. Er bewilligte schon am Sonntag, dass in den Räumen von Censier, der Nebengebäude der geisteswissenschaftlichen Fakultät, das bereits angekündigte Sit-in über eine Reform der Universität abgehalten wurde. Diese Diskussion begann dort auf der Stelle, und mehre Tage lang blieb die Atmosphäre in Censier eifrig-beflissen und gemäßigt aufgrund der ursprünglichen Makel ihrer Geburt. Schließlich versprach Pompidou, von Montag an alle Polizeikräfte aus dem Quartier Latin abzuziehen und folglich auch die Absperrungen aufzuheben, die die Sorbonne schützten. Am Morgen des 13. Mai war die Polizei abgezogen: die Sorbonne konnte somit in Besitz genommen werden.

Der Aufruf zum Generalstreik am 13.Mai wurde stark befolgt. In einem friedlichen Umzug durchquerten fast eine Million Arbeiter, mit ihnen Studenten und Professoren, Paris - von der République bis nach Denfert-Rochereau. Auf ihrem Weg wurde ihnen die allgemeine Sympathie zuteil.

Die Parolen bezogen sich auf die Solidarität von Arbeitern und Studenten und verlangten die Abdankung de Gaulles am 10. Jahrestag seiner Machtübernahme. Über hundert schwarze Fahnen mischten sich unter die Vielzahl von roten; so wurde zum ersten Mal diese Verbindung verwirklicht, die bald zum Kennzeichen der radikalsten Strömung der Bewegung der Besetzungen werden sollte, nicht so sehr als Bestätigung einer autonomen anarchistischen Präsenz wie als Zeichen der Arbeiterdemokratie.

Die Gewerkschaftler erreichten ohne weiteres die Auflösung des Zuges in Denfert; einige Tausend Teilnehmer, meistenteils Studenten, zogen zum Marsfeld weiter, wo ein Treffen improvisiert wurde. Währenddessen hatte eine Reihe anderer die Besetzung der Sorbonne begonnen. Dort ereignete sich spontan ein Phänomen von entscheidender Bedeutung: alle Anwesenden beschlossen, die Sorbonne den Arbeitern zu öffnen. Damit wurde die abstrakte Parole der Demonstration "Solidarität von Arbeitern und Studenten” beim Wort genommen. Dieser Übergang wurde an jenem Tag durch die tatsächliche Begegnung mit Arbeitern begünstigt, sowie vor allem durch den direkten Dialog zwischen den Studenten und fortgeschrittenen Arbeitern. Diese waren von der Demonstration gekommen, um zu sagen, dass sie vom ersten Tag an mit dem Kampf der Studenten übereinstimmten; und um die Dreckarbeit der Stalinisten zu denunzieren. Ein gewisser, von den sub-bürokratischen Spezialisten des Revolutionarismus gepflegter Arbeiterkult war sicher auch eine der Motivationen dieser Entscheidung. Aber das, was die Führer gesagt hatten, ohne wirklich daran zu glauben und ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein, nahm eine revolutionäre Dimension an, aufgrund der Atmosphäre der völligen Freiheit der Debatte, die in der Sorbonne eröffnet worden war und den impliziten paternalistischen Aspekt ihres Projekts völlig zunichte machte. /S.54/ Tatsächlich kamen wenige Arbeiter in die Sorbonne. Aber weil man die Sorbonne der Bevölkerung für geöffnet erklärt hatte, waren die Grenzen des Problems der Studenten und des betroffenen Publikums überschritten worden. Und weil die Sorbonne begann, eine demokratische Diskussion zu verwirklichen, die alles in Frage stellte, und alle getroffenen Entscheidungen als rechtskräftig betrachtete, wurde sie ein Leitstern für die Arbeiter im ganzen Land: Sie zeigte ihnen ihre eigenen Möglichkeiten. Die vollständige Freiheit des Ausdrucks manifestierte sich in der Besitznahme der Mauern ebenso wie in der freien Diskussion in allen Versammlungen. Die Plakate und Anschläge aller Richtungen bis hin zu den Maoisten hingen friedlich nebeneinander, ohne abgerissen oder überklebt zu werden. Einzig die KP-Stalinisten zogen es vor, sich zu enthalten. Die aufgemalten Inschriften tauchten erst etwas später auf. An diesem ersten Abend führte die erste revolutionäre Inschrift zu einigem Murren - sie war auf einer der Fresken in Form einer Sprechblase angebracht worden und verkündete die berühmte Formel: "Die Menschheit wird erst an dem Tag glücklich sein, an dem der letzte Bürokrat mit den Gedärmen des letzten Kapitalisten aufgehängt worden ist.” /S.55/ Nach einer öffentlichen Debatte beschloss die Mehrheit, sie wieder zu entfernen, was auch gemacht wurde. (Der Autor dieses Werkes schmeichelt sich, selbst diese Inschrift angebracht zu haben, die zwar im Moment abgelehnt wurde, jedoch den Weg zu einer sehr fruchtbaren Aktivität öffnete. - Siehe dazu: "Situationistische Internationale” Nr.11, (dt.) Band II S. 279).

Am 14.Mai wurde das Komitee ‘Enragés-Situationisten’ gegründet. (Die Kontakte zwischen der S.I. und den ‘Enragés’ hatten am Tage nach der Veröffentlichung des von diesen am 21. Februar verteilten Flugblatts Form angenommen. Nachdem sie ihre Autonomie bewiesen hatten, konnten sich die "Wütenden” mit der S.I. verständigen, die immer eine solche Autonomie als Voraussetzung jeder Vereinbarung angesehen hatte. Am Ende der Besetzungsperiode kam das Komitee "Wütende-S. I.” überein, diese Einheit innerhalb der S.I. fortzuführen.) Es begann sofort, auf die Mauern der Sorbonne Plakate zu kleben, die genau das sagten, was sie sagen wollten. Eines machte auf die Illusion einer direkten Demokratie, nur auf die Sorbonne beschränkt, aufmerksam. Ein anderes rief zur Wachsamkeit auf: ‘Die Rekuperatoren sind unter uns’.

Ein weiteres sprach sich gegen ‘jedes Überleben der Kunst’ und gegen die ‘Herrschaft der Trennungen’ aus. Eines schließlich, ‘Entchristianisieren wir sofort die Sorbonne!’, entrüstete sich über die sträfliche Toleranz, die von den Besetzern gegenüber der Kapelle, die noch verschont wurde, ausgeübt wurde: ‘Graben wir’, so war zu lesen, ‘die Reste des ekelerregenden Staatsmanns und Kardinals Richelieu aus und senden wir sie ans Elysée und an den Vatikan zurück!’ Dazu muss bemerkt werden, dass dieses Plakat in der Sorbonne das erste war, das verstohlen von denen heruntergerissen wurde, die seinen Inhalt missbilligten. Im Übrigen brannte an diesem Tag die Kommission ‘Kultur und Kreativität’ des ‘22. März’ ihre letzten Strohfeuer ab, indem sie Anschläge mit einer Reihe von Zitaten der S.I. - besonders aus dem Buch von Vaneigem - auf diesem Gebäude anbrachte.

Ebenfalls am 14.Mai wurde die erste Vollversammlung der Besetzer abgehalten; sie behauptete sich als einzige Macht in der Sorbonne und organisierte das Funktionieren der Besetzung. Die Debatte ließ drei Richtungen deutlich werden: ein beträchtlicher Teil der Anwesenden, der sich kaum zu Wort meldete, aber seine Meinung durch Applaus für bestimmte schwachsinnige Reden kundtat, wollte nur eine Reform der Universität, einen Kompromiss über die Examen, eine Art Universitätsfront mit den Linken aus dem Lehrkörper. Eine stärkere Strömung, die die gauchistischen Gruppen und ihre Anhänger vereinigte, wollte den Kampf bis zum Fall des Gaullismus bzw. des Kapitalismus fortsetzen. /S.57/ Eine dritte Position; die zwar von einer kleinen Minderheit vertreten, der aber Gehör geschenkt wurde, forderte die Abschaffung der Klassen, des Lohnwesens, des Spektakels und des [bloßen, reduzierten] Überlebens. Dies wurde deutlich in einer Erklärung René Riesels ausgedrückt, die er im Namen der ‘Enragés’ abgab. Er sagte, dass die Frage der Universität von nun an überholt sei und dass "die Examen durch die Barrikaden aufgehoben” seien. Er stellte vor der Versammlung den Antrag, sich für die Befreiung aller am 6. Mai festgenommenen Aufrührer - einschließlich derjenigen, die geplündert hatten - auszusprechen. Er zeigte auf, dass die einzige Zukunft für die Bewegung im Zusammenschluss mit den Arbeitern läge, nicht "zu ihren Diensten” aber an ihrer Seite, und dass die Arbeiter keinesfalls mit ihren bürokratischen Organisationen zu verwechseln seien. Er versicherte, dass man die gegenwärtige Entfremdung nicht bekämpfen könne, wenn man die der Vergangenheit außer Acht ließe - "keine Kapellen mehr!” -, und die von morgen müsse man ebenfalls mit einbeziehen: "Die Psychologen und Soziologen sind nur neue Bullen!”. Er denunzierte eine polizeiliche Autorität gleicher Natur in den hierarchischen Beziehungen zwischen Professoren und Studenten. Er warnte vor der Rekuperation der Bewegung durch die gauchistischen Führer und ihrer voraussehbaren Auflösung durch die Stalinisten. Er erklärte sich zum Schluss für die Macht der Arbeiterräte. Diese Intervention beschwor verschiedene Bewegungen herauf. So wurde der Vorschlag bezüglich der Plünderer eher mit Buhrufen bedacht als mit Zustimmung. Der Angriff auf die Professoren schockierte. Die erste offene Denunzierung der Stalinisten erstaunte. Nichtsdestotrotz, als die Versammlung etwas später zur Wahl ihres Exekutivorgans, des ersten "Besetzungskomitees” schritt, wurde Riesel zu einem seiner Mitglieder ernannt. So wie er der einzige war; der seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe kundgetan hatte, so war er ebenfalls der einzige, der ein Programm definierte. Als er hierzu wieder das Wort ergriff, präzisierte er, dass er die "direkte Demokratie in der Sorbonne” und die Perspektive der internationalen Macht der Arbeiterräte verteidigen wollte.

Die Besetzung der Fakultäten und Hochschulen in Paris hatte angefangen: die Beaux-Arts (Akademie der Künste) Nanterre, das Konservatorium für dramatische Kunst und die medizinische Fakultät befanden sich in den Händen von Studenten. Alle anderen sollten folgen.

Gegen Abend desselben 14. Mai besetzten die Arbeiter der "Sud-Aviation” in Nantes ihre Fabrik und verbarrikadierten sich darin, nachdem sie den Direktor, Duvochel, und Angehörige der Verwaltung in Büros eingeschlossen hatten, deren Türen sie zu schweißten. Außer von dem Beispiel der Besetzung der Sorbonne hatten die Arbeiter aus dem gelernt, was sich am Abend vorher in Nantes ereignet hatte. Auf Aufruf des Büros der UNEF - das, wie man weiter oben feststellen konnte, von Revolutionären beherrscht wurde -, /S.59/ gaben die Studenten in Nantes sich nicht damit zufrieden; mit den Gewerkschaftlern durch die Straßen zu ziehen. Sie marschierten auf die Präfektur zu und verlangten die Einstellung der Ermittlungen, die kürzlich gegen sie eingeleitet worden waren, und die Wiederzuerkennung einer jährlichen Unterstützung von 10. 000 Francs, die man ihnen - wie man sich denken kann - nach ihrer radikalen Stellungnahme gestrichen hatte. Sie errichteten zwei Barrikaden, die die CRS zu stürmen versuchte. Als Universitätsangehörige sich als "Unterhändler” anboten, entstand ein Waffenstillstand, den der Präfekt dazu ausnutzte, eine Delegation zu empfangen. Er wich auf der ganzen Linie zurück: Der Rektor zog seine Klage zurück und zahlte. Zahlreiche Arbeiter der Stadt hatten an diesem Kampf teilgenommen. Sie konnten die Wirksamkeit der in dieser Art gestellten Forderungen erkennen. Die der "Sud-Aviation” sollten sich am nächsten Tag daran erinnern. Die Studenten von Nantes kamen sofort, um die Streikposten zu unterstützen.

Als am 15.Mai die Besetzung der "Sud-Aviation” bekannt wurde, wurde sie überall als ein Akt von ungeheurer Bedeutung erkannt: Wenn andere Fabriken sich dem wilden Streik anschließen würden, würde die Bewegung irreversibel zu jener historischen Krise werden, die von den Klarsichtigen erwartet wurde. Am Ende des Vormittags schickte das Besetzungskomitee der Sorbonne dem Streikkomitee ein Unterstützungstelegramm: "Von der besetzten Sorbonne an die besetzte "Sud-Aviation”.

Das war die einzige Aktivität, die das Besetzungskomitee während fast des ganzen Tages auf die Beine brachte - und noch das hatte man Riesel zu verdanken. In der Tat, seit der ersten Versammlung des Komitees war ein verblüffender Kontrast aufgetaucht zwischen der Funktion, die es im Prinzip aufgrund seiner ausdrücklichen Delegation durch die Vollversammlung innehatte und den wirklichen Bedingungen, unter denen es arbeiten musste. Das Besetzungskomitee war aus 15 gewählten Mitgliedern zusammengesetzt, die jeden Tag von der Vollversammlung abgesetzt werden konnten, allein vor ihr verantwortlich waren und die die Besetzung der Sorbonne organisieren und aufrechterhalten sollten. Alle improvisierten Dienste oder solche, die eingerichtet werden mussten, um das Funktionieren der Besetzung und die Verteidigung des Gebäudes sowie dessen, was darin vorging, zu garantieren, waren unter seine Kontrolle gestellt. Es handelte sich darum, die freie Diskussion permanent aufrecht zu erhalten, die Fortsetzung der laufenden Aktivitäten zu sichern und zu erleichtern.

Das ging von der Verteilung der Säle bis zur Beschaffung von Nahrungsmitteln, /S.60/ von der demokratischen Nachrichtenverbreitung - schriftlich und mündlich - bis zur Aufrechterhaltung der Sicherheit. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus: Bankrotte UNEF -Bürokraten, das alte Kravetz-Peninou-.Tandem, das plötzlich aus der Vergessenheit wieder aufgetaucht war, in die es gerechterweise geraten war, hatten sich in die ihnen gut bekannten Korridore eingeschlichen, um sich in irgendeinem Keller einzurichten, von wo aus sie sich bemühten, alle Fäden der wirklichen Macht wieder an sich zu reißen und die Aktion aller möglichen freiwilligen Techniker zu koordinieren, die sich als ihre Freunde entpuppten. Da gab es B. ein "Koordinationskomitee”, das sich selbst gewählt hatte. Das "Komitee für Verbindung zwischen den Fakultäten” arbeitete auf eigene Rechnung. Der völlig autonome Ordnungsdienst gehorchte nur seinem Chef, einem im Übrigen anständigen Jungen, /S.61/ der sich selbst ernannt hatte und nur von dieser Position der Stärke aus bereit war zu diskutieren. Das "Presse-Komitee”, aus jungen oder künftigen Journalisten zusammengesetzt, stand nicht der Sorbonne zur Verfügung, sondern der gesamten französischen Presse. Was die Lautsprecheranlage anging, war sie ganz einfach in den Händen von rechten Elementen, die allerdings Radiospezialisten waren.

In diesem überraschenden Kontext machte es dem Besetzungskomitee sogar Schwierigkeiten, überhaupt über einen Raum zu verfügen: Jede bereits installierte Feudalität erhob Anspruch auf sämtliche Räume. Ohne Zweifel verschwand die. Mehrzahl der Mitglieder aus Entmutigung und ging in verschiedene untergeordnete, aber nicht unterworfene Komitees, denen sie das Verdienst anerkannte, zu existieren.

Offensichtlich hatten die weiter oben erwähnten Manipulateure vor, ihre Macht auf immer aufrechtzuerhalten, indem sie das einzige gewählte Komitee zu einer reinen Zierpflanze verkommen ließen. (Einige Zeit später schämte der niedergeschlagene Peninou sich nicht, seine Klagen laut kund zu tun: "Wir waren doch alle einig,” stöhnte er, "dass keine Gruppe am Besetzungskomitee teilnimmt. Wir hatten die Zustimmung der FER und der JCR, der "Chinesen” etc.. Nur die Situationisten hatten wir vergessen!”)

Die Manipulateure konnten mit dem Resultat ihrer Manöver für den 15.Mai zufrieden sein, denn sie schlugen der am Abend zusammengetretenen Vollversammlung vor, das gespensterhafte Besetzungskomitee en bloc für weitere 24 Stunden wiederzuwählen. Die acht Mitglieder des "Koordinationskomitees” wurden ebenfalls als einfache Hilfskräfte des Besetzungskomitees bestätigt. Bereits gestärkt durch die praktischen Mechanismen, /S.62/ die es in Händen hatte, gedachte das Koordinationskomitee seine Machtübernahme dadurch zu vollenden, dass es dem Besetzungskomitee direkt deutlich machte, dass es nicht mehr existierte. Fast alle Mitglieder des letzteren, die gerade wiederaufgetaucht waren, um ihre Wiederwahl durch die Vollversammlung zu hören, resignierten und zerstreuten sich. Einzig zwei Mitglieder des Besetzungskomitees begaben sich daran, an die Basis zu appellieren, und wiesen auf die skandalöse Art und Weise hin, in der die Macht der Vollversammlung verhöhnt worden war.

Auf dem Hof wandte Riesel sich an die Besetzer, um sie in die Vollversammlung zurückzubringen, damit sie zwischen den Bürokraten und ihren Delegierten entscheiden konnte. Einige Minuten später wurde die Tribüne eingenommen und die Bürokraten aufgefordert, sich öffentlich zu erklären. Der allgemeinen Entrüstung ausgesetzt, widerriefen sie schmählich. Was vom Besetzungskomitee übrig geblieben war, unterstützt von denen, die sich sofort mit ihm verbündet hatte, /S.63/ begann jetzt erst wirklich zu existieren.

Am selben 15.Mai fingen die Arbeiter der Renault Werke in Cleon (Seine-Maritime) an zu streiken und beschlossen, ihre Fabrik zu besetzen, indem sie ebenfalls ihre Direktoren einsperrten. Die Fabriken von Lockheed in Beauvais und Unulec in Orleans legten gleichfalls die Arbeit nieder. Gegen Ende des Abends bewegten sich 200 oder 300 Personen auf das "Odéon-Théatre de France” zu und richteten sich bei Schluss der Abendvorstellung als Besetzer ein. Wenn auch der Inhalt dieser "Befreiung” beschränkt blieb - sie wurde von den Kulturleuten und -problemen beherrscht - so bedeutete jedoch die Tatsache, sich eines Gebäudes zu bemächtigen, für das es keinerlei studentisches Alibi gab, eine Verbreiterung der Bewegung: Es war eine possenhafte Inszenierung der Auflösung der Staatsmacht. In der folgenden Nacht tauchten überall in der Sorbonne die schönsten Inschriften der Epoche auf.

Am Morgen des 16.Mai wurde die Besetzung von Renault-Cléon bekannt, und ein Teil der Arbeiter der "Neuen Vertriebsgesellschaft der Pariser Presse”(NMPP) begann ebenfalls einen wilden Streik und versuchte, die Auslieferung der Tageszeitungen zu verhindern. Das Besetzungskomitee der Sorbonne, das im Saal Jules Bonnot (früher Cavaillès) tagte, gab um 15 Uhr folgendes Kommuniqué heraus: "Genossen, die Fabrik ‘Sud-Aviation‘ in Nantes ist seit zwei Tagen von den Arbeitern und den Studenten der Stadt besetzt; die Bewegung hat heute auf mehrere Fabriken übergegriffen (NMPP-Paris, Renaul -Cléon usw.). Daher ruft das Besetzungskomitee der Sorbonne zur sofortigen Besetzung aller Fabriken in Frankreich und zur Bildung von Arbeiterräten auf. Genossen, verteilt und vervielfältigt diesen Aufruf so schnell wie möglich.”

Wie bereits gesagt, standen dem Besetzungskomitee keinerlei materielle Mittel zur Verfügung, um auch nur die geringste Aktivität durchzuführen.

Um seinen Aufruf zu verbreiten, machte es sich also daran, diese Arbeitsmittel zu ergreifen. Es konnte auf die Unterstützung der ‘Enragés’, der Situationisten und von rund 15 weiteren Revolutionären rechnen. Von den Fenstern des Saales Jules Bonnot aus fragte man mittels eines Megaphons in den Hof hinunter, wer freiwillig helfen würde. Es meldeten sich viele.

Sie schrieben den Text ab, der noch nicht vervielfältigt worden war, und lasen ihn in allen Vorlesungssälen und allen anderen Fakultäten vor. Als der Abzug der Flugblätter durch den CLIF absichtlich verlangsamt wurde, musste das Besetzungskomitee die Druckmaschinen beschlagnahmen und einen eigenen Verteilungsdienst organisieren. Da diejenigen, die die Lautsprecheranlage in ihren Händen hielten, nur mit Widerwillen den Text regelmäßig durchgaben, bemächtigte sich das Besetzungskomitee dieser Anlage. Die verdrossenen Spezialisten sabotierten die Einrichtung bei ihrem Weggang, Angehörige des Besetzungskomitees setzten sie wieder in Gang. /S.65/ Man bemächtigte sich auch der Telefonanlage, um das Kommuniqué an die Presseagenturen, in die Provinz und ins Ausland weiterzugeben. Ab 15 Uhr 30 begann es, sich zufriedenstellend zu verteilen.

Dieser Aufruf zur sofortigen Besetzung der Fabriken rief einen Skandal hervor. Sicher nicht bei der Masse der Besetzer der Sorbonne, wo sich so viele sofort freiwillig zu seiner Verteilung gemeldet hatten, aber bei den Kadern der kleinen gauchistischen Parteien, die, in Aufruhr versetzt, anfingen, von Wahnsinn und Abenteurertum zu reden. Sie wurden lakonisch abgespeist: das Besetzungskomitee war den verschiedenen Grüppchen gegenüber nicht zur Rechenschaft verpflichtet. So wurde Krivine, der Führer der JCR, erst von der Lautsprecheranlage, dann aus dem Saal Jules Bonnot verdrängt, in den er zwecks Ausdrucks seiner Missbilligung und Angst gekommen war; er tat sogar seine dumme Absicht kund, das Kommuniqué annullieren zu lassen. So sehr die Manipulateure auch Lust dazu hatten, hatten sie doch nicht mehr genügend Kräfte, /S.66/ noch einmal die Souveränität der Vollversammlung angreifen zu können, indem sie etwa einen Vorstoß in den Saal Jules Bonnot versucht hätten. In der Tat hatte das Besetzungskomitee seit dem frühen Nachmittag damit begonnen, seinen eigenen Sicherheitsdienst zu organisieren, um jede unverantwortliche Ausnutzung eines wenig sicheren Ordnungsdienstes parieren zu können. Es bemühte sich dann, denselben durch eine politische Diskussion mit seinen Basiselementen umzuorganisieren, die leicht von der anti-demokratischen Rolle überzeugt werden konnte, die einige ihnen zugedacht hatten.

Die ganze Arbeit, die Sorbonne wieder in die Hand zu bekommen, wurde durch eine Reihe von Flugblättern unterstützt, die schnell hintereinander herausgebracht und breit verteilt wurden. Sie wurden auch über die Lautsprecheranlage verlesen; ebenfalls wurden die Nachrichten über neue Fabrikbesetzungen bekanntgegeben, sobald sie eintrafen. Um 16 Uhr 30 warnte das Flugblatt "Wachsamkeit”: "Die Souveränität der revolutionären Vollversammlung hat nur dann Sinn, wenn diese auch die Macht ausübt. Seit 48 Stunden wurde die Entscheidungsfähigkeit der Vollversammlung selbst durch systematische Verschleppungsmanöver in Frage gestellt...Die Forderung der direkten Demokratie stellt die Mindestunterstützung dar, die die revolutionären Studenten den revolutionären Arbeitern, die die Fabriken besetzt halten, zukommen lassen können. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Zwischenfälle in der Vollversammlung von gestern Abend unbestraft bleiben: Die Pfaffen machen ihre Klappe wieder auf, wenn anti-klerikale Anschläge abgerissen werden”.

Um 17 Uhr denunzierte das Flugblatt "Achtung!” das Pressekomitee, das "sich weigert, die Kommuniqués der ordnungsgemäß gewählten Instanzen der Vollversammlung weiterzugeben”, und "eigentlich ein Zensurkomitee ist”. Es forderte die "verschiedenen Arbeitsgruppen” dazu auf, sich ohne Mittelsmänner direkt an die Presse zu wenden; dazu wurden einige Telefonnummern bekanntgegeben: Um 18 Uhr 30 stellte das Flugblatt "Vorsicht, Manipulateure. Vorsicht, Bürokraten!” den unkontrollierten Ordnungsdienst bloß. Es unterstrich die entscheidende Bedeutung der Vollversammlung, die an diesem Abend stattfinden sollte.

"In dem Augenblick, wo die Arbeiter in Frankreich anfangen, mehrere Fabriken zu besetzen, auf unser Beispiel hin und mit dem gleichen Recht wie wir, hat das Besetzungskomitee heute um 15 Uhr die Bewegung gutgeheißen. Das zentrale Problem der heutigen Vollversammlung ist es also, sich durch ein klares Votum für oder gegen den Aufruf seines Besetzungskomitees auszusprechen. Im Falle einer Missbilligung übernimmt diese Versammlung also die Verantwortung, einzig den Studenten ein Recht vorzubehalten, das sie der Arbeiterklasse verweigert. In diesem Falle ist es klar, dass sie von nichts anderem reden will, als von einer gaullistischen Reform der Universität”.

Um 19 Uhr schlug ein Flugblatt eine Liste von radikalen Parolen vor, die verbreitet werden sollten: /S.69/ "Alle Macht den Arbeiterräten”, "Nieder mit der spektakulären Warengesellschaft”, "Ende der Universität” usw. Die Gesamtheit dieser Aktivitäten, die die Zahl der Mitglieder des Besetzungskomitees von Stunde zu Stunde größer werden ließ, ist von der bürgerlichen Presse zynisch verfälscht worden, im Gefolge von "Le Monde”, die am 18. Mai hierüber folgendermaßen berichtete: "Niemand weiß mehr so recht, wer eigentlich das Besetzungskomitee in der Sorbonne leitet. In der Tat, der Saal, wo dieser Organismus tagt, der jeden Abend um 20 Uhr in der Vollversammlung gewählt wird, ist gegen Ende des Nachmittags durch ‘wütende‘ Studenten der‘ situationistischen Internationale‘ eingenommen worden. Diese ‘halten‘ besonders die Lautsprecheranlage der Sorbonne inne, was ihnen erlaubt hat, in der Nacht verschiedene Parolen herauszugeben, die viele Studenten abenteuerlich gefunden haben: ‘Wenn Ihr einen Bullen trefft, schlagt ihm eins in die Fresse‘, ‘Verhindert mit Gewalt, dass in der Sorbonne fotografiert wird!‘. Die Studenten der S.I. haben andererseits ‘alle bürokratischen Strukturen aufgelöst‘, die vorher eingerichtet worden waren, wie die Presseabteilung und den Ordnungsdienst. Die Entscheidungen dieses Komitees könnten in der Vollversammlung wieder in Frage gestellt werden, die sich an diesem Freitag um 14 Uhr einfinden soll. "(Diese Verleumdungen hatten ein langes Leben. In "Paris-Match” vom. 6. Juli konnte man lesen: "Diese poetische Anarchie dauert nicht lange. Eine Gruppe, die sich "Wütende-Situationisten” nennt, ergreift die Macht, d. h. das, was man die "Grüppchenlegalität” nennen könnte; sie bemächtigt sich vor allem, notwendig und ausreichend, des wichtigsten Werkzeugs: der "Sono”, d. h. der Lautsprecheranlage, des Systems von Lautsprechern, mit dessen Hilfe man Tag und Nacht einen Regen von Slogans auf Hof und Gänge ergießen kann.

Wer die "Sono” hat, hat das Wort und die Autorität. Über diese Anlage verbreiten die Situationisten sogleich völlig übergeschnappte Botschaften. Sie rufen zum Beispiel alle Studenten auf, "die Sainte-Anne-Kranken in ihrem Befreiungskampf gegen die Psychiater zu unterstützen.” Noch etwas ganz anderes: in seinem Buch über "Die Tage vom Mai 68” (Nouvelles Editions Latines) denunziert der Faschist Francois Duprat "als Ausgangspunkt des ‘22. März‘ die von den ungefähr 40 Studenten und Mitgliedern der S. I. permanent gestiftete Unruhe”; behauptet weiter, "der Spionagedienst der DDR habe die Hand im Spiel” bei der S.I. und ihrer Tätigkeit. Er macht das Maß voll, indem er die Situationisten mit dem "22. März” vermengt und Cohn-Bendit als "deren ehemaliger Freund” bezeichnet.)

Dieser Nachmittag des 16.Mai ist der Moment, an dem die Arbeiterklasse sich ohne Möglichkeit der Umkehr für die Bewegung zu entscheiden beginnt. Um 14 Uhr werden die Renault-Werke in Flins besetzt. Zwischen 15 und 17 Uhr setzt sich der wilde Streik in Boulogne-Billancourt durch. /S.70/

An allen Ecken und Enden des Landes werden Fabriken besetzt. Die Besetzung der öffentlichen Gebäude greift überall weiter um sich und erreicht das psychiatrische Krankenhaus Sainte-Anne, das von seinem Personal übernommen wird.

Angesichts dieser Anhäufung von Nachrichten vereinigen sich alle gauchistischen Gruppen in der Sorbonne zu einem sofortigen Marsch nach Billancourt um 20 Uhr. Das Besetzungskomitee kam überein, dass man die Vollversammlung verschieben musste, die es doch sehnlichst der eigenen Verantwortung gegenüberstellen wollte. Sein kurz vor 20 Uhr herausgegebenes Kommuniqué erklärte: "In Übereinstimmung mit verschiedenen politischen Gruppen, der Bewegung des ‘22.März´, der UNEF entschließt sich das Besetzungskomitee, die Vollversammlung vom 16.Mai, 20 Uhr auf den 17.Mai, 14 Uhr zu verschieben. Alle zum Platz der Sorbonne um 20 Uhr, um nach Billancourt zu marschieren.”

Dar Eintritt in den Kampf der Renault Werke Billancourt - der größten Fabrik Frankreichs -, die in den sozialen Konflikten so oft eine entscheidende Rolle gespielt hatten, und vor allem die drohende Verbindung zwischen Arbeitern und den revolutionären Besetzungen, die sich vom Kampf der Studenten aus entwickelt hatten, /S.71/ versetzte die Regierung und die sogenannte kommunistische Partei in Schrecken. Bevor sie noch über das Vorhaben eines Marsches auf Billancourt informiert waren, reagierten sie auf fast identische Art und Weise auf die schlechten Nachrichten, die sie bereits kannten. Um 18.30 Uhr "warnte” ein Kommuniqué des stalinistischen Polit-Büros "die Arbeiter und Studenten vor jeglichen abenteuerlichen Parolen”. Kurz nach 19 Uhr wurde ein Kommuniqué der Regierung verbreitet: "Angesichts der verschiedenen Versuche, die von extremistischen Gruppen angekündigt oder bereits in Gang gesetzt worden sind, um eine allgemeine Agitation zu provozieren; erinnert der Premierminister daran, ... dass die Regierung keinen Angriff auf die republikanische Ordnung dulden kann. Sobald die Universitätsreform zu einem Vorwand geworden ist, um das Land in Unordnung zu stürzen, hat die Regierung die Aufgabe, den öffentlichen Frieden aufrechtzuerhalten.” Die Regierung entschied die sofortige Einberufung von 10.000 Reservisten der Gendarmerie.

3.000 bis 4.000 Besetzer der Sorbonne marschierten in zwei Zügen bis nach Billancourt, immer noch mit roten und schwarzen Fahnen. Der CGT, die alle Eingänge unter Kontrolle hielt, gelang es zu verhindern, dass es zu einer Begegnung mit den Arbeitern kam. Was das Projekt eines Marsches auf die ORTF angeht, das das Komitee "Wütende-Situationistische Internationale” versucht hatte, /S.72/ schon von der Vollversammlung am 14.Mai billigen zu lassen und noch am 15. Mai verteidigt hatte, hatten sich der "22. März”, die UNEF und die SNE-sup. Dazu entschlossen, diesen Vorschlag am nächsten Tag, dem 17.Mai, durchzuführen. Sobald diese Entscheidung bekannt geworden war, erklärte die CGT am 16.Mai um 21 Uhr, dass diese "die Gestalt einer Provokation annähme, die nur der persönlichen Macht diene.” Um 22.30 Uhr sprach auch die stalinistische Partei von einer Provokation. Um Mitternacht gaben die SNE -sup und die UNEF klein bei und taten kund, dass sie ihren Appell zurückzögen.

In der Nacht begann in der Sorbonne die Gegenoffensive der Manipulateure. Indem sie die Abwesenheit der revolutionären Elemente, die bei den Renault Werken waren, ausnutzten, versuchten sie, eine Vollversammlung mit denen zu improvisieren, die am Ort geblieben waren. Das Besetzungskomitee schickte zwei Delegierte dorthin, die den künstlichen Charakter einer auf diese Weise zustande gekommenen Versammlung denunzierten. Als die Versammlung sich darüber klar wurde, wie ihr mitgespielt worden war, löste sie sich sofort auf.

Am frühen Morgen baten die Arbeiter der NMPP die Besetzer der Sorbonne um Hilfe zur Verstärkung ihrer Streikposten, die die Arbeitsniederlegung noch nicht hatten durchsetzen können. Das Besetzungskomitee schickte Freiwillige. Auf der Linie Nummer 2 der Metro unternahm ein gegen die Gewerkschaften organisiertes Aktionskomitee den Versuch, einen Streik bei der RATP durchzusetzen. Rund hundert Fabriken sollten im Laufe des Tages noch besetzt werden. Seit dem Vormittag kamen Arbeiter aus den streikenden Pariser Unternehmen zur Sorbonne, um den Kontakt herzustellen, den die Gewerkschaften an den Fabriktoren verhinderten. Die Arbeiter von Renault waren auch hier die ersten gewesen. /S.73/

Die Vollversammlung um 14 Uhr diskutierte als wichtigsten Punkt einen zweiten Marsch auf Billancourt und vertagte die Regelung aller anderen Probleme auf seine Abendsitzung. Die FER versuchte vergebens, auf die Tribüne vorzudringen, und ihr Führer ergriff ebenso vergeblich das Wort, um diesen zweiten Marsch zu verhindern, oder wenigstens, wenn er doch stattfinden sollte, diesem die einzige - para-stalinistische - Parole "Einheitsfront der Arbeiter” aufzudrängen. Die FER sah sich zweifellos schon in einer solchen Front zusammen mit der SFIO und der KP anerkannt.

Während der ganzen Krise war die FER für die stalinistische Partei das, was die stalinistische Partei für den Gaullismus ist: die Unterstützung hatte Vorrang vor der Rivalität, und dieselben guten Taten auf dem jeweiligen Niveau ernteten selbstverständlich nichts als Undank. Ein Kommuniqué der CGT war soeben erschienen und versuchte "heftig, den Initiatoren dieses Marsches von ihrer Initiative abzuraten.” Der Marsch fand statt, er wurde ebenso aufgenommen wie der am Vorabend. Die CGT hatte sich bei den Arbeitern noch stärker diskreditiert, indem sie innerhalb und außerhalb der Fabrik folgende lächerliche Verleumdung anschlagen ließ: /S.74/ "Junge Arbeiter! Revolutionäre Elemente versuchen, Zwiespalt in unsere Reihen zu säen, um uns zu schwächen. Diese Extremisten sind nur Handlanger der Bourgeoisie, die dafür sogar großzügig von den Unternehmen entlohnt werden.”

Das Besetzungskomitee hatte außerdem um 13 Uhr noch ein Flugblatt herausgegeben, das von den Arbeitern verfasst wurde, die den Streik bei Renault ausgelöst hatten. Sie erklärten, wie Jungarbeiter die Basis einiger Abteilungen mitgerissen und so die Gewerkschaften gezwungen hatten, im Nachhinein eine Bewegung zu billigen, die sie hatten verhindern wollen: "Die Arbeiter erwarten, dass jede Nacht Leute zu den Toren kommen, um massenhaft eine Massenbewegung zu unterstützen.” Zur gleichen Stunde wurden Telegramme in verschiedene Länder geschickt, die die revolutionäre Position der besetzten Sorbonne darlegten.

Als die Vollversammlung endlich um 20 Uhr zusammenkam, hatten sich die Bedingungen, die am Anfang ihr Funktionieren entstellt hatten, keinesfalls gebessert. Die Lautsprecheranlage funktionierte nur für die exakte Dauer gewisser Verlautbarungen und fiel genau für andere aus. Die Führung der Debatten und vor allem die eventuelle Abstimmung über einen Antrag hingen technisch von einem grotesken Unbekannten ab, /S.75/ offensichtlich einem Strohmann der UNEF, der sich vom ersten Augenblick der Besetzung an zum ständigen Präsidenten aller Vollversammlungen ernannt hatte und sich - entgegen jeder Missbilligung und jeder Erniedrigung - bis zum Ende an diesem Posten festklammerte.

Die FER, die seit dem Morgen naiv ihre Absicht kundgetan hatte, die Bewegung "wieder in die Hand zu nehmen”, versuchte weiterhin, auf die Tribüne zu gelangen. Die Manipulateure aller Sekten arbeiteten zusammen, um die Vollversammlung daran zu hindern, sich über die Aktivitäten des Besetzungskomitees, das sein Mandat gerade zurückgegeben hatte, und besonders über dessen Aufruf zur Besetzung der Fabriken zu äußern. Diese Verschleppungsmanöver wurden von einer Verleumdungskampagne begleitet, die sich lieber auf kleine Details bezog, die dazu bestimmt waren, einen Zermürbungskrieg zu führen: man griff die "St. Germain-Allüren” der Unordnung im Gebäude an, die Missachtung der kleinen gauchistischen Parteien und der UNEF, einen Kommentar über die Besetzung des psychiatrischen Krankenhauses St. Anne, aus dem einige meinten, einen Aufruf zur "Befreiung der Verrückten” herauslesen zu können.

Die Versammlung erwies sich als unfähig, sich durchzusetzen. Das ehemalige Besetzungskomitee konnte keine Abstimmung über seine Führung erreichen. /S.76/ Da es in keiner Weise bei den Kämpfen um Einflussnahme und den Kompromissen eine Rolle spielen wollte, die bereits hinter der Kulisse wegen des nachfolgenden Besetzungskomitee im Gang waren, kündigte es an, dass es die Sorbonne verlassen würde, da die direkte Demokratie hier ab jetzt von den Bürokraten abgewürgt würde. Alle seine Mitglieder gingen gleichzeitig hinaus, und der Ordnungsdienst fand sich aufgelöst, während die FER, die bereits seit über einer Stunde die Tribüne bedrängte, von der Situation profitierte und sich hinaufdrängte. Sie konnte trotz allem nicht die Führung der Sorbonne an sich bringen, wo sich dieselben Richtungskämpfe bis zum Ende fortsetzen sollten. Das Urteil des Besetzungskomitees bestätigte sich unglücklicherweise bis in alle Einzelheiten.

Wenn das Scheitern des Versuchs einer Rätedemokratie in der Sorbonne ohne Zweifel schädlich war für die Weiterentwicklung der Bewegung der Besetzungen, die genau auf diesem Gebiet ihren hauptsächlichen Mangel haben sollte, von dem ihr allgemeines Scheitern ausging, ist es jedenfalls sicher, dass an dem Punkt, an dem die Krise angelangt war, keine Gruppe mehr genügend Kraft hatte, mit nennenswerter Wirkung in einem revolutionären Sinne zu intervenieren. Alle Organisationen, die in der Tat einen Einfluss auf die spätere Entwicklung hatten, waren Feinde der Arbeiterautonomie. Alles sollte vom Kräfteverhältnis in den Fabriken zwischen den überall isolierten und vereinzelten Arbeitern und der vereinigten Macht von Staat und Gewerkschaften abhängen.

5. Kapitel:
Der wilde Generalstreik
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/S.81/
"In Frankreich genügt es, dass einer etwas sei, damit er alles sein wolle.”
Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

 

/S.82/

 Im Laufe des 17. Mai dehnte sich der Streik auf fast die gesamte Metall- und chemische Industrie aus. Nach den Arbeitern von Renault entschlossen sich die von Berliet, Rhodiaceta, Rhone-Poulenc und der SNECMA zur Besetzung ihrer Fabriken. Mehrere Bahnhöfe befanden sich in den Händen der Arbeiter, und nur wenige Züge verkehrten noch. Die Postbeamten besetzten schon die Versandabteilungen. Am 18. Mai griff der Streik auf die Air France und die RATP über. Der Streik, der von einigen exemplarischen Besetzungen in der Provinz seinen Ausgang genommen hatte, erreichte das Gebiet um Paris, um von dort aus das ganze Land zu erfassen. Von diesem Augenblick an konnten selbst die Gewerkschaften nicht mehr daran zweifeln, dass diese Kettenreaktion wilder Streiks im Generalstreik enden würde.

Spontan ausgelöst, hatte sich die Bewegung der Besetzungen gleich gegen alle Ansprüche und Kontrollen der Gewerkschaften behauptet. ‘Die Direktion von Renault’, so stellte ‘Le Monde’ vom 18. Mai fest, ‘unterstreicht den wilden Charakter der Auslösung der Bewegung nach dem Streik des 13. Mai, der in der Provinz nur teilweise befolgt worden war. Man hält es gleichfalls für paradox, dass der Herd des Protestes sich in einem Unternehmen befindet, wo es auf sozialer Ebene nur relativ geringe Routinekonflikte gab.’

Der Umfang des Streiks zwang die Gewerkschaften zu einer schnellen Gegenoffensive, die besonders brutal klarmachen sollte, dass ihre natürliche Funktion die von Hütern des kapitalistischen Systems in den Fabriken ist. Die gewerkschaftliche Strategie verfolgte ihr Hauptziel: den Streik zu zerstören. Um das zu erreichen, bemühten sich die Gewerkschaften, die eine lange Tradition als Brecher von wilden Streiks haben, diese ausgedehnte Bewegung, die einem Generalstreik gleichkam, zu einer Reihe von Streiks zu reduzieren, die gleichzeitig in verschiedenen Unternehmen stattfanden. Die CGT übernahm die Führung dieser Gegenoffensive. Am 17. Mai tagte ihr Bundesrat und erklärte: ‘Die Aktion, die auf Initiative der CGT und anderer Gewerkschaftsorganisationen begonnen wurde, schuf eine neue Situation von außerordentlicher Bedeutung.’ Der Streik wurde so akzeptiert, aber um jede Aufforderung zum Generalstreik abzublocken.

Nichtsdestotrotz stimmten die Arbeiter überall für den unbegrenzten Streik und die Fabrikbesetzungen. Um Herr über eine Bewegung zu werden, die sie direkt bedrohte, mussten die bürokratischen Organisationen zunächst die Initiative der Arbeiter bremsen und der beginnenden Autonomie des Proletariats entgegentreten. Sie bemächtigten sich also der Streikkomitees, die sofort zu einer richtiggehenden Polizeimacht wurden mit dem Auftrag, die Arbeiter in den Fabriken zu isolieren und im Namen derselben ihre eigenen Forderungen zu stellen.

Während an den Toren fast sämtlicher Fabriken die Streikposten - /S.83/ immer auf Anordnung der Gewerkschaften - die Arbeiter daran hinderten, für sich selbst und mit anderen zu sprechen, sowie den radikalsten Strömungen, die sich damals manifestierten, zuzuhören, sorgten die Gewerkschaftsführungen für die Einschränkung der gesamten Bewegung auf ein Programm rein beruflicher Forderungen. Das Spektakel des bürokratischen Protestes erreichte seinen parodistischen Höhepunkt, als die frisch entchristianisierte CFDT sich daran begab - zu Recht im Übrigen - die CGT anzuklagen, dass sie sich nur auf materielle Aspekte beschränkte.

Die CFDT proklamierte: "Jenseits der materiellen Forderungen wird das Problem der Verwaltung und der Führung der Unternehmen gestellt.” Dieses "Überbieten” einer modernistischen Gewerkschaft aus wahltaktischen Gründen ging so weit, die "Selbstverwaltung” vorzuschlagen, als Form "der Arbeitermacht in den Unternehmen”. Man konnte damals die beiden Hauptfälscher dabei beobachten, wie sie sich gegenseitig die Wahrheit ihrer eigenen Lüge an den Kopf warfen: der Stalinist Seguy, indem er die Selbstverwaltung als "leere Formel” abqualifizierte, und der Pfaffe Descamps, indem er sie ihres wirklichen Inhalts entleerte. In der Tat war dieser Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten um die bestmöglichsten Verteidigungsformen des bürokratischen Kapitalismus das Vorspiel ihres grundlegenden Einverständnisses über die Notwendigkeit, mit dem Staat und den Unternehmern zu verhandeln.

Am Montag, dem 20. Mai, waren Streik und Fabrikbesetzung allgemein, von einigen Sektoren abgesehen, die allerdings nicht zögern sollten, sich der Bewegung anzuschließen. Man zählte sechs Millionen Streikende; es sollten in den folgenden Tagen mehr als zehn Millionen werden. Die CGT und die KP - von allen Seiten überholt - denunzierten jede Idee eines "aufrührerischen Streiks”, während sie gleichzeitig vortäuschten, /S.85/ ihre Forderungen zu erhärten. Seguy erklärte, dass "seine Dossiers für eine eventuelle Verhandlung bereit seien.” Für die Gewerkschaften sollte die ganze revolutionäre Kraft des Proletariats nur dazu dienen, sie in den Augen einer fast nicht mehr existierenden Regierung und einer faktisch enteigneten Unternehmerschaft präsentierfähig zu machen. /S.87/

Die gleiche Komödie wurde auf der politischen Bühne gespielt. Am 22.Mai wurde der Zensurantrag mitten in der allgemeinen Gleichgültigkeit verschoben. Es geschahen mehr Dinge auf den Straßen und in den Fabriken als in allen Parlaments- und Parteisitzungen zusammen. Die CGT rief zu einem "Tag der Forderungen” am Freitag, den 24., auf. Aber in der Zwischenzeit führte das Aufenthaltsverbot für Cohn-Bendit zu einem Wiederaufflammen der Straßenkämpfe. Eine Protestdemonstration wurde am gleichen Tag improvisiert, um die des folgenden Tages, des Freitags, vorzubereiten. Die Parade der CGT-Leute, die um 14 Uhr begonnen hatte, schloss mit einer besonders senilen Rede de Gaulles.

Jedoch zur gleichen Stunde hatten sich Tausende von Demonstranten entschlossen, noch einmal sowohl der Polizei wie dem studentischen Ordnungsdienst zu trotzen. Die massive Beteiligung von Arbeitern an dieser Demonstration, die von CGT und KP verurteilt wurde, zeigte im negativen Sinne an, bis zu welchen Grad diese nur noch das Schauspiel einer Macht bieten konnten, die ihnen nicht mehr gehörte. Auf die gleiche Art und Weise gelang es dem "Führer des 22. März” [Daniel Cohn-Bendit] durch seine erzwungene Abwesenheit, eine Agitation hervorzurufen, die er nicht hätte bändigen können. /S.88/

Einige 30.000 Demonstranten hatten sich zwischen dem Gare de Lyon und der Bastille versammelt. Sie machten sich in Richtung Rathaus auf den Weg. Aber die Polizei hatte natürlich bereits alle Auswege versperrt: die erste Barrikade wurde also auf der Stelle errichtet. Sie gab das Signal zu einer Reihe von Zusammenstößen, die sich bis zum Morgengrauen fortsetzten. Einem Teil der Demonstranten war es gelungen, sich zur Börse durchzuschlagen und sie zu verwüsten. Dieser Brand, der den Wünschen mehrerer Generationen von Revolutionären entsprochen hätte, zerstörte diesen "Tempel des Kapitals” nur sehr oberflächlich. Mehrere Gruppen hatten sich in den Vierteln um die Börse, die Hallen und die Bastille bis zum Platz der Nation verteilt; andere erreichten das linke Seine-Ufer und hielten das Quartier Latin und St.-Germain-des-Prés besetzt, bevor sie sich in Richtung Denfert-Rochereau zurückzogen. Die Gewalt erreichte ihren Höhepunkt. (Man gab zu, dass es einen Toten unter den Demonstranten gegeben hatte. Das arme Opfer gab Anlass zu vielerlei Gerüchten: man erklärte, dass es von einem Dach gefallen sei; dann, dass es erschlagen worden sei, als es sich dem demonstrierenden Mob entgegenstellte. Schließlich ergab der Bericht eines Gerichtsmediziners mehrere Wochen nach dem Tod, dass das Opfer durch die Explosion einer Handgranate umgekommen war.) Sie hatte aufgehört, das Monopol der "Studenten” zu sein, sie wurde das Privileg des Proletariats. Im Enthusiasmus wurden zwei Polizeireviere verwüstet: das am Odéon und das an der Rue Beaubourg. /S.89/ Vor der Nase der ohnmächtigen Polizisten wurden vor dem Pantheon zwei grüne Minnas und ein Dienstwagen mit Hilfe von Molotow-Cocktails in Brand gesteckt. Zur gleichen Zeit schlugen sich mehrere Tausend Aufständische mit der Polizei in Lyon und töteten einen Kommissar, indem sie einen mit Steinen beladenen Lastwagen auf ihn zurollen ließen; sie gingen weiter als in Paris und organisierten die Plünderung eines Kaufhauses. Es kam zu Kämpfen in Bordeaux, wo die Polizei den Waffenstillstand vorzog, in Nantes und selbst in Straßburg.

So waren die Arbeiter in den Kampf eingetreten, nicht nur gegen ihre Gewerkschaften, sondern sie sympathisierten obendrein noch mit einer Bewegung von Studenten, schlimmer noch, von Halbstarken und Vandalen, /S.91/ die so phantastische Parolen vertraten wie: "Arbeite nie” und "Ich habe mich mit den Pflastersteinen vergnügt”. Keiner der Arbeiter, der zu den Revolutionären außerhalb der Fabriken kam, um zusammen mit ihnen eine Verständigungsbasis zu suchen, äußerte gegenüber diesem extremen Aspekt der Bewegung Bedenken. Im Gegenteil, die Arbeiter zögerten nicht, Barrikaden zu errichten, Autos zu verbrennen, Polizeireviere zu plündern und aus dem Boulevard St. Michel einen großen Garten zu machen, Arm in Arm mit denen, die vom nächsten Tag an von [Innenminister] Fouchet und der sogenannten kommunistischen Partei als "Abschaum der Gesellschaft” bezeichnet werden sollten.

Die Regierung und die bürokratischen Organisationen antworteten gemeinsam am 25. Mai auf dieses Vorspiel zu einem Aufstand, das sie das Fürchten gelehrt hatte. Ihre Antworten ergänzten sich: beide wünschten das Verbot von Demonstrationen und sofortige Verhandlungen; jeder traf die Entscheidung, die der andere wünschte.

6. Kapitel:
Tiefe und Grenzen der revolutionären Krise
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/S.97/
"Es war ein Fest ohne Anfang und Ende; ich sah alle und niemanden, weil sich alles in der zahllosen feiernden Menge verlor; ich sprach mit allen und entsinne mich nicht mehr, was ich, was man mir sagte, denn bei jedem Schritt drangen neue Eindrücke, neue Abenteuer, neue Nachrichten auf einen ein.”
Mikhail Bakunin, "Beichte”

 

/S.98/

Die Bewegung der Besetzungen, die sich der Schlüsselzonen der Wirtschaft bemächtigt hatte, ergriff sehr schnell alle Bereiche des sozialen Lebens und griff alle Kontrollinstanzen des Kapitalismus und der Bürokratie an. Die Tatsache, dass der Streik sich jetzt auch auf Aktivitäten erstreckte, die sich stets der Subversion entzogen hatten, machte zwei der ältesten Fragestellungen der situationistischen Analyse noch deutlicher: Die stets zunehmende Modernisierung des Kapitalismus zieht die Proletarisierung einer immer breiter werdenden Schicht der Bevölkerung nach sich. Und in dem Maße, wie die Welt der Ware ihre Macht auf alle Aspekte des Lebens ausdehnt, erzeugt sie überall die Erweiterung und Verschärfung der Kräfte, die sie ablehnen.

Die Kraft des Negativen war so groß, dass sie nicht nur die Reserven auf Seiten der Stoßtruppen mobilisierte, sondern obendrein dem Pack, das sich bemühte, das Positive der herrschenden Welt zu verstärken, erlaubte, sich eine Art Protest zu leisten. So konnte man zusehen, wie sich die wirklichen Kämpfe ebenso wie ihre Karikaturen auf allen Ebenen und in jedem Augenblick entwickelten.

Von Anbeginn hatten sich die Aktionen der Studenten in den Universitäten und auf den Straßen bis in die Gymnasien hinein fortgesetzt. Trotz gewisser gewerkschaftlicher Illusionen der Aktionskomitees der Oberschüler signalisierten die Gymnasiasten durch ihre Kampfbereitschaft und ihr Bewusstsein, dass sie eher die nächsten Totengräber der Universitäten als die künftigen Studenten sein würden.

Mehr als die Universitätsangehörigen ließen sich die Gymnasiallehrer durch ihre Schüler erziehen. Sie schlossen sich massiv dem Streik an, in dem die Volksschullehrer ihrerseits eine entscheidende Position eingenommen hatten. Durch die Besetzung ihrer Arbeitsplätze protestierten die Angestellten der Banken, Versicherungen und Kaufhäuser gleichzeitig gegen ihren proletarischen Status und gegen ein System von Dienstleistungen, das jeden zum Diener des Systems macht. Trotz des Glaubens an eine ‘objektive Information’ hatten die streikenden ORTF-Angestellten gleichfalls eine - wenn auch konfuse - Einsicht in ihre eigene Verdinglichung, und sie empfanden den grundsätzlich lügnerischen Charakter jeder Kommunikation, in der Hierarchie vorhanden ist. Die Solidaritätswelle, die vom Enthusiasmus der ausgebeuteten getragen wurde, kannte keine Grenzen.

Die Studenten des Konservatoriums für dramatische Kunst richteten sich in ihren Räumen ein und nahmen massiv an den dynamischsten Phasen der Bewegung teil. Die Studenten des Konservatoriums für Musik forderten eine ‘wilde und vorübergehende Musik’ in einem Flugblatt, in dem sie weiter proklamierten: ‘Unsere Forderungen müssen innerhalb einer vorgegebenen Frist angenommen werden, sonst bedeutet das die Revolution.’ Sie fanden diesen kongolesischen Tonfall wieder, den die Lumumba-Anhänger und Muleleisten genau in dem Augenblick populär machten, wo das Proletariat der industrialisierten Länder begann, /S.101/ seine mögliche Unabhängigkeit zu erproben, und der so gut das ausdrückt wovor alle Machthaber Angst haben: die naive Spontaneität derer, die zum politischen Bewusstsein gelangen. Auf ähnliche Weise nahm die an sich lächerliche Formel ‘Wir sind alle deutsche Juden!’ [als Antwort auf die Ausweisung von Daniel Cohn-Bendit] im Mund der Araber, die diese am 24.Mai als Sprechchor an der Bastille skandierten, einen wirklich beunruhigenden Tonfall an. Denn jeder dachte daran, dass man eines Tages das Massaker vom Oktober 1961 rächen müsste, und dass kein Ablenkungsmanöver in Bezug auf den israelisch-arabischen Krieg das verhindern könnte.

Die Übernahme des Passagierschiffs ‘France’ durch seine Besatzung auf offener See vor Le Havre hatte trotz seiner geringen Folgen das Verdienst, denen die heute über die Chancen einer Revolution nachdenken in Erinnerung zu rufen, dass die Geste der Matrosen von Odessa [1905], Kronstadt [1817 …1921] und Kiel [1918] nicht der Vergangenheit angehört. Das Ungewöhnliche wurde alltäglich in dem Maße, wie das Alltägliche sich erstaunliche Veränderungsmöglichkeiten eröffnete. Die Forscher des Observatoriums in Meudon organisierten die astronomische Beobachtung selbst. Die Nationaldruckerei streikte. Die Totengräber besetzten die Friedhöfe, die Fußballer feuerten die Vorsitzenden ihrer Vereine und gaben ein Flugblatt heraus, in dem sie forderten: ‘Der Fußball den Fußballern!’ Der alte Maulwurf schonte nichts, weder die alten noch die neuen Privilegierten. Die Assistenzärzte und die jungen Ärzte hatten die Feudalstruktur, die in ihrer Fakultät herrschte, aufgelöst und auf ihre ‘Chefs’ gespuckt, bevor sie sie hinausgejagt hatten. Sie hatten gegen das Ärztekollegium Partei ergriffen und den medizinischen Konzeptionen den Prozess gemacht. Die ‘protestierenden leitenden Angestellten’ gingen so weit, dass sie sogar ihr eigenes Recht auf Autorität in Frage stellten – als negatives Privileg, mehr konsumieren und folglich weniger leben zu dürfen. Sogar die Werbeleute folgten dem Vorbild der Proletarier, die das Ende des Proletariats verlangten, indem sie die Abschaffung der Werbung wünschten.

Dieser klar ausgedrückte Wille zu einer wirklichen Veränderung brachte umso besser die gemeinen, lächerlichen Manöver der Verfälscher ans Licht, derer, die ihren Beruf daraus machen, die alte Welt mit scheinbaren Veränderungen zu verkleiden. Wenn die Pfaffen wieder ihre Klappe aufmachen konnten, ohne dass ihnen die Kirchen über dem Kopf zusammenbrachen, dann deshalb, weil die revolutionäre Spontaneität – die, welche im Spanien von 1936 den richtigen Gebrauch der kirchlichen Gebäude vorschrieb – /S.102/ noch unter dem Druck des Stalino-Guevarismus stand. Dann war es nicht erstaunlich, dass sich die Synagogen, Tempel und Kirchen in ‘Zentren des Protestes’ verwandelten, um die alte Mystifikation im neuen Gewand aufzutischen, mit dem Segen derer, welche die modernistische Suppe seit über einem halben Jahrhundert brauen. Da man die besetzten Sakristeien und leninistischen Theologen duldete, wurde es schwierig, gewissen Leuten da Maul mit ihrer eigenen Unverschämtheit zu stopfen: so z.B. den Museumsdirektoren, die die Sanierung ihrer Lager forderten; den Schriftstellern, die das Hotel Massa, das schon ganz anderes erlebt hatte, Fäkalienreinigern der Kulturtoiletten vorbehalten wollten; den Filmemachern, die auf Zelluloid das rekuperierten, was die revolutionäre Gewalt keine Zeit gehabt hatte zu zerstören; schließlich den Künstlern, die wieder die alte Hostie der revolutionären Kunst auf der Zunge zergehen ließen.

Trotzdem hatten jedoch Millionen Menschen im Zeitraum von einer Woche mit der schwerlastenden Vergangenheit der Entfremdungsbedingungen gebrochen, mit der Überlebensroutine, mit der ideologischen Verfälschung, mit der umgekehrten Welt des Spektakels. Zum ersten Mal seit der Commune von 1871 und mit einer schöneren Zukunftsaussicht hob der individuelle wirkliche Mensch den abstrakten Bürger in sich auf (nahm ihn in sich zurück); als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Beziehungen wurde er ein Gattungswesen und erkannte so seine eigenen Kräfte als soziale Kräfte. Die Fete gewährte schließlich jenen richtige Ferien, die nur Arbeits- und Urlaubstage kannten. Die hierarchische Pyramide war wie Schnee in der Mai-Sonne geschmolzen. Man sprach miteinander, /S.103/ man verstand sich, ehe man noch richtig ausgeredet hatte.

Es gab keine Intellektuellen, keine Arbeiter mehr sondern nur noch Revolutionäre, die sich überall unterhielten, und eine Art von Kommunikation verallgemeinerten, von der sich nur die ‘Arbeiter’-Intellektuellen und andere Aspiranten auf Führungsrollen ausgeschlossen fühlten. In diesem Kontext hatte das Wort ‘Genosse’ seinen authentischen Sinn wiedergefunden, es bezeichnete wirklich das Ende der Trennungen; und die, welche es in stalinistischer Manier benutzten, begriffen bald, dass sie nur umso besser als Wachhunde denunziert wurden, sobald sie in der Sprache der Wölfe redeten. Die Straßen gehörten denen, welche die Pflastersteine herausrissen. Das plötzlich wiederentdeckte alltägliche Leben wurde das Zentrum aller möglichen Eroberungen. Leute, die immer in Büros gearbeitet hatten, die jetzt besetzt waren, erklärten, das sie nie wieder so leben könnten wie vorher, auch nicht ein wenig besser als vorher. Man fühlte genau, dass es in der beginnenden Revolution nur noch taktische Rückzüge, aber keine Verzichte mehr geben würde. Anlässlich der Besetzung des Odeon zog sich der Verwaltungsdirektor nach hinten auf die Bühne zurück, um, nachdem der Überraschungsmoment vorbei war, einige Schritte nach vorne auf die Bühne zu machen und auszurufen: ‘Jetzt, wo ihr es besetzt habt – behaltet es, gebt es nie wieder zurück, verbrennt es lieber!’ Dass das Odeon dann vorübergehend wieder an seine kulturellen Galeerensklaven zurückgegeben wurde und nicht in Flammen aufging, zeigt nur, dass man sich erst im Anfangsstadium befand. /S.105/ Die kapitalisierte Zeit stand still. Ohne Zug, ohne Metro, ohne Auto, ohne Arbeit holten die Streikenden die Zeit nach, die sie auf so triste Weise in den Fabriken, auf den Straßen, vor dem Fernseher verloren hatten. Man bummelte herum, man träumte, man lernte zu leben.

Die Wünsche fingen an, allmählich Wirklichkeit zu werden. Zum ersten Mal gab es wirklich eine Jugend. Nicht diese soziale Kategorie, die von Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlern zum Wohle der Warengesellschaft erfunden worden ist, sondern sondern die einzig wirkliche Jugend, die der ohne toten Punkt erlebten Zeit, die den polizeilichen Bezug auf das Alter zugunsten der Intensität ablehnt (‘Es lebe die kurzlebige marxistisch-pessimistische Jugend’ war als Graffito zu lesen). Die radikale Theorie, als schwierig verschrien bei den Intellektuellen, die unfähig waren, sie zu leben, wurde erreichbar für alle die, welche sie in ihren geringsten Gesten der Verweigerung spürten, und deshalb hatten sie auch keinerlei Schwierigkeiten, das auf den Mauern theoretisch zu formulieren, was sie zu leben wünschten.

Ein Abend auf den Barrikaden hatte genügt, um die Rocker zu politisieren /S.106/ und in Übereinstimmung mit der fortgeschrittensten Fraktion der Bewegung der Besetzungen zu bringen. Zu den objektiven Bedingungen, die von der S.I. vorausgesehen worden waren und die zur natürlichen Untermauerung und Verbreitung ihrer Thesen beitrugen, kam die technische Hilfe der besetzten Druckereien hinzu. Einige Drucker waren unter den wenigen Streikenden (- ein Unternehmen im westlichen Pariser Vorort stellte Walkie-Talkies für den Gebrauch der Demonstranten her. Postbeamte verschiedener Städte stellten Fernverbindungen für die Streikenden her -), die über den sterilen Zustand der passiven Besetzung hinausgingen und sich entschlossen, diejenigen praktisch zu unterstützen, die an der Spitze des Kampfes standen. Flugblätter und Plakate, die zur Bildung von Arbeiterräten aufriefen, erreichten so eine sehr hohe Auflage. Die Aktion der Drucker entsprach dem klaren Bewusstsein der Notwendigkeit, in der sich die Bewegung befand, allen Streikenden die Produktionswerkzeuge und die Konsumzentren zur Verfügung u stellen, aber auch einer Klassensolidarität, die bei anderen Arbeitern eine exemplarische Form annahm.

Das Personal der Firma Schlumberger legte Wert darauf festzustellen, dass sich ihre Forderungen ‘keineswegs auf die Löhne’ bezögen, und trat in den Streik, um die besonders ausgebeuteten Arbeiter der benachbarten Danone-Fabrik zu unterstützen. Die Arbeiter von FNAC erklärten ähnliches in einem Flugblatt: ‘Wir, die Arbeiter von FNAC, sind in den Streik getreten/S.107/ nicht zur Befriedigung unsrer spezifischen Forderungen, sondern um an der Bewegung teilzunehmen, die gegenwärtig 10 Millionen Hand- und Kopfarbeiter mobilisiert …’. Der Internationalismus, den die Spezialisten der friedlichen Koexistenz und des exotischen Guerillakampfes voreilig vergessen hatte oder in die Grabreden des schwachsinnigen Régis Debray hatten verschwinden lassen, tauchte mit einer Stärke wieder auf, die als gutes Zeichen für die nahe Rückkehr der Internationalen Brigaden gelten kann. Gleichzeitig löste sich plötzlich das ganze Spektakel um die Außenpolitik, Vietnam an der Spitze, auf und enthüllte, was es immer gewesen war: falsche Probleme für falsche Proteste. Man applaudierte der Vereinnahmung des Bumidom durch die Antillen, den Besetzungen der internationalen Studentenwohnheime. Selten wurden so viele Nationalflaggen von so vielen Ausländern verbrannt; sie waren entschlossen, ein für alle Male mit den Staatssymbolen Schluss zu machen, bevor sie den Staaten selbst ein Ende setzen würden. Die französische Regierung antwortete auf diesen Internationalismus und lieferte die Spanier, Perser, Tunesier, Portugiesen, Afrikaner und alle die an die Gefängnisse aller Länder aus, die in Frankreich von einer bei ihnen verbotenen Freiheit träumten. /S.109/

Dem ganzen Geschwätz über die Teilforderungen würde es nicht gelingen, einen einzigen Augenblick erlebter Freiheit auszulöschen. Innerhalb weniger Tage hatte die Gewissheit, dass eine globale Veränderung möglich ist, einen Punkt erreicht, von dem aus keine Rückkehr mehr möglich war. In ihrer wirtschaftlichen Grundlage getroffen, hörte die hierarchische Organisationsform auf, wie etwas Schicksalhaftes zu erscheinen. Die Ablehnung der Chefs und Ordnungsdienste, wie der Kampf gegen den Staat und seine Polizisten, war zunächst an den Arbeitsplätzen Wirklichkeit geworden, wo man Unternehmer und Vorgesetzte jeden Ranges verjagt hatte. Selbst die Gegenwart von Führungslehrlingen, den Vertretern der Gewerkschaften und Parteien, konnte im Geist der Revolutionäre nicht den Eindruck verwischen, das das, was mit der größten Leidenschaft geschaffen worden war, ohne Führer - also gegen sie - geschehen war. Der Ausdruck ‘Stalinist’ wurde so zur von allen anerkannten schlimmsten Beleidigung in der politischen Szene.

Die Arbeitsniederlegung als wesentliche Phase einer Bewegung, die kaum ihren aufständischen Charakter ignorierte, brachte jedem den offensichtlichen Grundsatz wieder zu Bewusstsein, dass die entfremdete Arbeit die Entfremdung erzeugt. Das Recht auf Faulheit setzte sich durch, nicht nur in volkstümlichen Inschriften wie ‘arbeitet nie’ oder ‘leben ohne tote Zeit, Genießen ohne Hemmungen’, sondern vor allem in der Entfesselung von spielerischen Aktivitäten. Bereits Fourier bemerkte, /S.110/ dass Lohnarbeiter einige Stunden zur Errichtung einer Barrikade brauchen, die Aufständische in einigen Minuten auftürmen. Das Verschwinden der Zwangsarbeit fiel notwendigerweise mit dem Aufschwung der Kreativität in allen Bereichen zusammen: in den Graffiti, in der Sprache, im Benehmen, in der Taktik, bei den Kampftechniken, der Agitation, den Liedern, den Plakaten und Comics. Jeder kann daran die Menge kreativer Energie ermessen, die in den Zeiten des Überlebens, den zur Leistung verurteilten Tagen, beim Einkaufen, vor dem Fernseher, bei bei der zum Prinzip erhobenen Passivität verpulvert wird. Mit demselben Geigerzähler kann man die Trübseligkeit der Freizeitfabriken abschätzen, in denen man bezahlt, um gelangweilt die Waren zu konsumieren, die man mit dem Überdruss produziert, der wiederum die Freizeitvergnügungen als wünschenswert erscheinen lässt. ‘Unter den Pflastersteinen – der Strand’ hat ein Mauern Poet freudig festgestellt, während gleichzeitig ein vom CNPF unterzeichneter Brief den Arbeitern zynisch empfahl, sie sollten nun die Fabrikbesetzungen vergessen und von ihren Lohnerhöhungen profitieren, indem sie ihre Ferien im Club Méditerranée verbringen.

Die Aggressivität, die von den Massen bezeugt wurde, richtete sich – darüber braucht man nicht zu streiten - gegen das Warensystem. Wenn auch wenig geplündert wurde, so erlitten doch viele Schaufenster die Kritik der Pflastersteine. Schon seit langem hatten die Situationisten vorausgesehen, dass die ständige Einladung, von den verschiedensten Gegenständen zu profitieren - gegen eine hinterhältige Geldgegenleistung -, die Wut der hintergangenen und ausschließlich als Konsumenten angesehenen Massen hervorrufen würde. Die Privatautos, die sich in der Entfremdung der Arbeit und der Freizeit, die mechanische Langeweile, die Schwierigkeit der Fortbewegung und den ständigen Groll ihrer Besitzer zugleich symbolisieren, waren ein bevorzugtes Objekt für die Feuerteufel. (Man ist mit Recht erstaunt, dass die Humanisten, die gewöhnlich prompt alle Gewalttätigkeiten denunzieren, es nicht für nötig hielten, dieser heilsbringenden Geste, die eine ganze Anzahl von Personen, die jeden Tag bei Verkehrsunfällen umkommen, vor dem sicheren Tod bewahrt, zu applaudieren.) Der durch die Schließung der Banken herbeigeführte Geldmangel wurde nicht als Behinderung, sondern als Erleichterung der menschlichen Beziehungen verspürt. Gegen Ende Mai begann man sich an die Idee eines Verschwindens des Bargeldes zu gewöhnen. Die tatkräftige Solidarität überbrückte die Mängel des persönlichen Unterhalts. Essen wurde an vielen Orten gratis verteilt, die von Streikenden besetzt worden waren. Alle wussten im Übrigen genau, dass man im Falle einer Verlängerung des Streiks zu Requisitionen übergehen müsste und so eine Periode des wahren Überflusses einleiten würde.

Diese Art und Weise, die Sache an der Wurzel zu packen, war wirklich die verwirklichte Theorie, die praktische Ablehnung der Ideologie. /S.112/ So dass die, welche auf diese Weise radikal handelten, sich doppelt geeignet sahen, die Verzerrung der Wirklichkeit zu denunzieren, die von den bürokratischen Apparaten in ihren Spiegelpalästen im Kampf zur Durchsetzung ihrer eigenen Widerspiegelung vorgenommen wird. Sie schlugen sich für die fortgeschrittensten Ziele des revolutionären Projektes und konnten deshalb im Namen aller und in Kenntnis der Sachlage sprechen. Sie maßen den Abstand besser aus, der zwischen der Praxis der Basis und den Ideen der Führer besteht. Seit den ersten Versammlungen in der Sorbonne wurden diejenigen, die behaupteten, im Namen einer traditionellen Gruppe und einer spezialisierten Politik zu reden, ausgebuht; es wurde ihnen unmöglich gemacht, das Wort zu ergreifen. Diejenigen auf den Barrikaden hielten es nie für nötig, sich von anerkannten oder potenziellen Bürokraten erklären zu lassen, für wen sie kämpften. Sie wussten gut genug - aufgrund des Vergnügens, das sie daran hatten - dass sie für sich kämpften, und das genügte ihnen. Das wurde das Antriebselement einer Revolution, die kein bürokratischer Apparat dulden konnte. Dort wurden in der Hauptsache die Bremsklötze angelegt.

Die Kritik des alltäglichen Lebens fing an, erfolgreich die Szenerie der Entfremdung zu verändern. Die Rue Gay-Lussac wurde in ‘Straße des 11.Mai’ umbenannt, die roten und schwarzen Fahnen verliehen den Fassaden der öffentlichen Gebäude ein menschliches Aussehen, die Haussmannsche Perspektive der Boulevards wurde korrigiert, die Grünzonen neu verteilt und für den schnellen Durchgangsverkehr gesperrt. Jeder kritisierte auf seine Art den Urbanismus. Was die Kritik des künstlerischen Projekts angeht, so darf man diese nicht bei den Handelsreisenden der Happenings oder den Abfällen der Avantgarde suchen, sondern auf der Straße, auf den Mauern und in der allgemeinen Emanzipationsbewegung, die in sich die Verwirklichung selbst der Kunst trug. Ärzte, die sich ansonsten so oft der Verteidigung ihrer Standesinteressen widmen, liefen ins Lager der Revolution über und denunzierten die Polizeifunktion, die sie ausüben müssen: ‘Die kapitalistische Gesellschaft hat unter der Decke einer scheinbaren Neutralität (Liberalismus, ärztliche Berufung, nicht aktiv eingreifender Humanismus) den Arzt auf Seiten der Kräfte der Repression eingereiht: ihm ist aufgetragen, die Bevölkerung arbeits- und konsumfähig zu erhalten (Beispiel: die Arbeitsmedizin). Ihm ist aufgetragen, die Leute zur Annahme einer Gesellschaftsform zu zwingen, die sie krank macht (Beispiel: Psychiatrie).’ (Auszug aus dem Flugblatt ‘Medizin und Repression’, herausgegeben vom nationalen Zentrum junger Ärzte.) Den Assistenzärzten und Krankenpflegern der Irrenanstalt St.Anne kommt die Ehre zu, dass sie praktisch diese KZ-ähnliche Welt entlarvt haben, indem sie sie besetzten, jene Schweinehunde, die schon André Breton gern hätte krepieren sehen, verjagten und Vertreter der angeblich Kranken in das Besetzungskomitee aufnahmen. /S.113/

Selten hat man so viele Leute so viele ‘normale’ Verhaltensweisen in Frage stellen sehen, und ohne Zweifel wird man eines Tages feststellen müssen, dass im Mai 1968 das Gefühl von tiefgreifenden Umwälzungen der tatsächlichen Umgestaltung der Welt und des Lebens vorausging. So ging überall ein deutlich räte-ähnliches Verhalten der Erscheinung der Räte voraus. Das aber, was die frischen Rekruten des neuen Proletariats fertigbringen können, werden die Arbeiter besser machen, sobald sie aus den Käfigen ausgebrochen sind, in denen sie von den Affen der Gewerkschaften gehalten werden; d.h. bald – wenn man sich auf Parolen wie ‘lynchen wir Seguy’ bezieht.

Die Bildung von Basis-Aktionskomitees war ein besonderes und positives Merkmal der Bewegung; und doch waren in ihr die meisten Hindernisse enthalten, welche die Bewegung brechen sollten. Sie ging ursprünglich aus dem entschiedenen Willen hervor, den bürokratischen Manipulationen zu entgehen und an der Basis im Rahmen der allgemeinen Subversion eine autonome Aktion auf die Beine zu stellen. So konnten die Aktionskomitees von Rhône-Poulenc, NMPP und einiger anderer Kaufhäuser, um nur diese zu nennen, von Anfang an entgegen allen Manövern der Gewerkschaften den Streik einleiten und verhärten. Das Gleichem gilt für die Aktionskomitees ‘Studenten-Arbeiter’, denen es gelang, die Ausdehnung und Radikalisierung des Streiks zu beschleunigen. Jedoch krankte die Formel von den ‘Basis-Komitees’ an der kläglichen Tatsache, dass sie von ‘Militanten’ [das bedeutet in Frankreich: Aktivisten-Funktionären linksradikaler Organisationen, ‘Grüppchen’] in die Diskussion gebracht worden war. Die meisten von ihnen waren eine leichte Beute für die Unterwanderungsspezialisten: sie ließen sich durch Sektenstreitigkeiten lähmen und konnten nur die naiven Gutwilligen entmutigen. Viele verschwanden auf diese Art und Weise. Andere widerten die Arbeiter an durch ihren Eklektizismus und ihre Ideologie. Ohne direkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die wirklichen Kämpfe wurde diese Formel zu einem schimärenhaften Subprodukt der revolutionären Aktion: sie begünstigte alle Karikaturen, alle Rekuperationen (C.A. Odeon [im Theaterbereich], C.A. Écrivains [im Bereich der Literaten] usw.).

Die Arbeiterklasse hatte spontan das realisiert, was keine Gewerkschaft, keine Partei an ihrer Stelle machen konnte oder wollte: die Auslösung des Streiks und die Fabrikbesetzungen. Sie hatte das Wesentliche getan, ohne das nichts möglich gewesen wäre, aber sie tat nichts weiter und gab so den von außen kommenden Kräften die Gelegenheit, ihr ihren Sieg zu nehmen und an ihrer Stelle zu sprechen. Der Stalinismus spielte da seine schönste Rolle seit Budapest [1956]. Die sogenannte kommunistische Partei und ihr gewerkschaftliches Anhängsel [CGT mit Seguy als Vorsitzendem] waren die wichtigste gegen-revolutionäre Kraft, die die Bewegung hemmte. Weder die Bourgeoisie noch die Sozialdemokratie hätten sie so erfolgreich bekämpfen können. Deshalb, weil sie die mächtigste Zentrale war und die meisten Illusionen aufrechterhalten konnte, erschien die CGT am offensichtlichsten /S.114/ als erster Feind des Streiks. In der Tat verfolgten auch die anderen Gewerkschaften das gleiche Ziel. Niemand jedoch fand so schöne Worte dafür wie die ‘Humanité’ [das KPF-Zentralorgan und Tageszeitung], die voller Entrüstung die Schlagzeile aufsetzte: ‘Regierung und Unternehmer verlängern den Streik’.

(Ein in [der linkskommunistischen] ICO Nr.72 nachgedrucktes Flugblatt vom 8.Juni 1968, unterzeichnet von dem Delegierten eines schwedischen Solidaritätskomitees von Arbeitern und Studenten aus Göteborg, berichtet, dass Thomasi, der Vertreter der CGT-Renault, die gesammelte Geldsumme zurückwies mit dem Argument, ‘dass der gegenwärtige Streik eine französische Angelegenheit sei und die anderen Länder nichts angehe; dass die französischen Arbeiter ‘fortgeschritten’ seien und es ihnen daher an nichts fehle, schon gar nicht an Geld … ; dass der gegenwärtige Streik keineswegs revolutionär sei, dass einzig die ‘Forderungen’ auf dem Spiel stünden; dass die Ingangsetzung [dieses wilden Generalstreiks] eine romantische Idee sei und der französischen Situation nicht angemessen; dass dieser Streik das Ergebnis einer geduldigen, systematischen Arbeit der Gewerkschaften während langer Jahre sei und nun unglücklicherweise kleine infiltrierte Gruppen versuchten, Arbeiter und Gewerkschaftsführer gegeneinander aufzuhetzen, indem sie glauben machten, dass die Gewerkschaften den Arbeitern in den Streik gefolgt wären statt umgekehrt’.)

In der modernen kapitalistischen Gesellschaft sind die Gewerkschaften weder eine entartete Arbeiterorganisation noch eine revolutionäre Organisation, die von ihren verbürokratisierten Führern verraten worden wäre, sondern sie sind ein Mechanismus der Integration des Proletariats in das Ausbeutungssystem. Ihrem Wesen nach reformistisch, ist die Gewerkschaft - was auch immer der politische Inhalt der jeweils in ihr herrschenden Bürokratie sein mag – der beste Stützpfeiler der Unternehmer, die ihrerseits reformistisch geworden sind. (Das hat man z.B. 1960-1961 bei der Sabotage des großen Wilden Streiks der belgischen Arbeiter durch die sozialistische Gewerkschaft gesehen.) Sie ist der Hauptbremsklotz jedes Willens zur totalen Emanzipation des Proletariats. Von nun an wird jede Revolte der Arbeiterklasse in erster Linie gegen ihre ‘eigenen’ Gewerkschaften gerichtet sein. Das ist die grundlegende Wahrheit, welche die Neobolsheviken sich weigern anzuerkennen.

Obgleich sie die Parole ‘Revolution’ ausgaben, sind sie in der Sphäre der Konterrevolution geblieben: die Trotskisten und Maoisten haben sich stets in Bezug auf den offiziellen Stalinismus definiert. Dadurch haben sie dazu beigetragen, die Illusionen des Proletariats über die KPF und die Gewerkschaften zu nähren. So war es keineswegs erstaunlich, dass sie abermals ‘Verrat!’ riefen, wo es nur um ein natürliches bürokratisches Verhalten ging. Indem sie die ‘revolutionären’ Gewerkschaften verteidigen, träumen sie alle davon, sie einmal zu unterwandern. Sie sehen nicht nur das Neue nicht, sondern sie versteifen sich darauf, die Irrtümer der Vergangenheit zu reproduzieren: sie stellen das schlechte Gedächtnis des Proletariats dar, indem sie alle missglückten [proletarischen] Revolutionen unserer Epoche wiederaufleben lassen, von 1917 an bis zu den den Revolutionen bäuerlich-bürokratischen Charakters in China und Kuba. Ihr anti-historisches totes Gewicht hat auf der Waagschale der Konterrevolution schwer gewogen, und ihre ideologische Prosa hat dazu beigetragen, die wirklichen Dialoge, die überall begannen, zu verfälschen.

Aber alle diese objektiven Hindernisse außerhalb der Aktion und des Bewusstseins der Arbeiterklasse hätten der Zeit einer Fabrikbesetzung nicht widerstanden, wenn die subjektiven Schranken, die dem Proletariat eigen sind, nicht auch bestanden hätten. Denn die revolutionäre Strömung, die innerhalb weniger Tage Millionen von lohnarbeitenden Menschen mobilisierte, ging von einem sehr niedrigen Niveau aus. Man erleidet nicht unbeschadet mehrere Jahrzehnte konterrevolutionärer Geschichte. /S.115/ Etwas bleibt immer bestehen, und diesmal war der Rückstand des theoretischen Bewusstseins das Schwerwiegendste. Die Entfremdung durch die Ware, die spektakuläre Passivität und die organisierte Trennung sind die Haupterrungenschaften des modernen Überflusses; gegen diese Aspekte richtete sich der Mai-Aufstand in erster Linie, aber der im Bewusstsein der Leute selbst versteckte Anteil dieser Aspekte rettete die alte Welt. Die Proletarier sind spontan in den Kampf eingetreten, einzig mit der Waffe ihrer revoltierenden Subjektivität; die Tiefe und die Heftigkeit dessen, was sie getan haben, ist die unmittelbare Antwort auf die unerträgliche herrschende Ordnung; aber letzten Endes hatten die revolutionären Massen keine Zeit, ein genaues und wirkliches Bewusstsein dessen zu entwickeln, was sie taten. Und dieses Auseinanderfallen zwischen dem Bewusstsein und der Praxis bleibt das grundsätzliche Kennzeichen unvollendeter proletarischer Revolutionen. Das geschichtliche Bewusstsein ist die Bedingung sine qua non der sozialen Revolution. Sicher gab es bewusste Gruppen, die den tieferen Sinn der Bewegung geahnt und ihre Entwicklung begriffen haben; sie haben am konsequentesten und radikalsten gehandelt. Denn es waren nicht die radikalen Ideen, die gefehlt haben, sondern vor allem eine kohärente und organisierte Theorie.

Diejenigen, die von Herbert Marcuse als ‘Theoretiker’ der Bewegung sprachen, wussten nicht, wovon sie redeten. Sie haben weder Marcuse verstanden geschweige denn die Bewegung selbst. Die Ideologie Marcuses, bereits in sich lächerlich, ist der Bewegung als Markenzeichen verpasst worden, so, wie Geismar, Sauvageot und Cohn-Bendit als ihre Vertreter ‘auserwählt’ wurden. Selbst diese gestanden im Übrigen, dass sie Marcuse nicht kannten. (Obwohl sie tatsächlich sehr wenig gelesen haben, versagen diese Rekuperations-Intellektuellen es sich trotzdem nicht, ihre paar Lektüren zu verheimlichen, um als reine Männer-der-Tat zu erscheinen. Indem sie eine Unabhängigkeit voraussetzen, /S.116/ die ihnen aus der Aktion erwachsen soll, hoffen sie vergessen lassen zu können, dass sie nur die Werbe-Marionetten dieser inszenierten Aktion waren. Was soll man von der zynischen Deklaration halten, die Geismar in ‘La révolte étudiante’ (Édition du Seuil) von sich gibt. ‘Vielleicht in zwanzig Jahren, wenn es uns gelingt, eine neue Gesellschaft aufzubauen und innerhalb dieser eine neue Universität, werden sich Historiker oder Ideologen finden, um in einer Reihe von Pamphleten oder Werkchen von Philosophen oder anderen die schöpferischen Quellen dessen, was geschehen wird, zu entdecken; aber ich glaube, zur Stunde sind diese Quellen informeller Natur.’ [Vom Autor hervorgehoben – R.V.] Der ungeschickte Geismar kann seine Maske abnehmen, man hat ihn erkannt!)

Wenn die revolutionäre Krise des Mai wirklich etwas verdeutlicht hat, dann das Gegenteil der Thesen Marcuses: eben dass das Proletariat nicht integriert ist, und dass es die entscheidende revolutionäre Kraft der modernen Gesellschaft darstellt. Pessimisten und Soziologen müssen ihre Rechnungen neu aufstellen. Die ‘Unterentwickelten’, die Black-Power-Bewegung und die Dutschkisten ebenfalls.

Dieser theoretische Rückstand hat auch alle praktischen Unzulänglichkeiten hervorgebracht, die dazu beigetragen haben, den Kampf zu lähmen. Wenn auch das Prinzip des Privateigentums, die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, überall mit Füßen getreten wurde, so waren doch diejenigen, die bis zum letzten zu gehen wagten, sehr selten. Die Verweigerung der Plünderung war nur ein Detail: nirgends gingen die Arbeiter so weit, die Warenlager der Kaufhäuser auszuteilen. Fast nie wurde die Wiederingangsetzung bestimmter Produktions- oder Verteilungssektoren im Dienste der Streikenden beschlossen, trotz einiger isolierter Aufrufe im Sinne einer solchen Perspektive. Tatsächlich setzt ein solches Unterfangen bereits eine andere Organisationsform des Proletariats voraus als die der Gewerkschaftspolizei. Und der Mangel dieser autonomen Form machte sich grausam bemerkbar.

Wenn es dem Proletariat nicht gelingt, sich revolutionär zu organisieren, kann es nicht siegen. Die Seufzer der Trotskisten über das Fehlen einer ‘Avantgarde-Organisation’ sind das direkte Gegenteil des historischen Projekts der Emanzipation der Arbeiter. Der Zugang der Arbeiterklasse zum geschichtlichen Bewusstsein wird das Werk der Arbeiter selbst sein, und nur durch das Mittel einer autonomen Organisation können sie dorthin gelangen. Die Form der Arbeiterräte bleibt das Mittel und Ziel dieser totalen Emanzipation.

Diese subjektiven Hindernisse bewirkten, dass das Proletariat nicht für sich selbst das Wort zu ergreifen vermochte, und erlaubte gleichzeitig den Sprachspezialisten - die sich unter den Hauptverantwortlichen dieser Hindernisse befinden -, weiter ihr Hochamt zu zelebrieren. Aber überall, wo sie auf die radikale Theorie getroffen sind, wurden sie dadurch geschädigt. Nie wurden so viele Leute, die es verdient hatten, als Pack abgestempelt: /S.117/ nach den offiziellen Wortführern des Stalinismus waren die [soziologischen, strukturalistischen, prä- und poststrukturalistischen, semiologischen und sonstigen linksakademischen und kulturindustriellen Autoritäten, wie:] Axelos, die Godards, die Chatelets, die Morins (- dieses Schwein übertreibt: in seinem idiotischen Buch ‘Mai 68 – La Brèche’ schreckt er nicht davor zurück die Situationisten anzuklagen, sie hätten sich ‘zu mehreren auf einzelne gestürzt’. Bei dem Ex-ARGUMENTisten ist das Lügen entschieden ein Beruf. Denn er müsste doch eigentlich wissen, dass ein einziger Situationist ihn im Laufschritt bis nach Versailles oder sogar nach Plodemet jagen würde ...), die Lapassades an der Reihe; sie wurden beschimpft und gejagt, sobald sie in den Vorlesungssälen der Sorbonne oder auf der Straße auftauchten, um dort ihre guten Dienste und ihre Karriere fortzusetzen. Gewiss, diese Reptilien liefen nicht Gefahr vor Scham zu sterben. Sie warteten auf ihre Stunde: die Niederlage der Bewegung der Besetzungen – um von neuem ihre auf den Tagesgeschmack abgestimmte Nummer abzuziehen. Konnte man nicht sehen, wie im Programm der schwachsinnigen ‘Sommeruniversität’ Lapassade für Vorlesungen über ‘Selbstverwaltung’, Lyotard mit Chatelet für zeitgenössische Philosophie, sowie Godard, Sartre und Butor als Mitglieder ihres ‘Unterstützungskomitees’ angekündigt wurden?

Es ist völlig klar, dass alle diejenigen, die sich der revolutionären Umgestaltung der alten Welt entgegengestellt hatten, sich selbst nicht um einen Deut verändert haben. Genauso unerschütterlich wie die Stalinisten, die hinreichend diese unheilvolle Bewegung durch die einfache Tatsache kennzeichneten, dass diese sie die Wahlen hat verlieren lassen, fanden die Leninisten der trotskistischen Parteien darin nur die Bestätigung ihrer These, dass eine Avantgarde-Partei zur Führung der Massen fehlte. Was die gewöhnlichen Zuschauer angeht, so sammelten sie oder verkauften die revolutionären Veröffentlichungen; und sie kauften geschwind die Poster mit den Barrikadenfotos.

7. Kapitel:
Der Kulminationspunkt
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/S.119/
"Fassen wir zusammen: Diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Methode zu ändern, wenn die Zeiten es erfordern, gedeihen ohne Zweifel solange gut, wie ihre Gangart mit der des Glücks übereinstimmt; oder sie gehen zugrunde, sobald diese wechselt. Im Übrigen sollte man meines Erachtens lieber zu übermütig sein als zu umsichtig.”
Machiavelli, "Der Fürst”

 

/S.120/

Im Verlaufe des Vormittags vom 27. Mai legte Seguy den Arbeitern der Renault-Werke in Billancourt die Abkommen vor, die zwischen Gewerkschaften, Regierung und Unternehmern ausgehandelt worden waren. Einstimmig pfiffen die Arbeiter den Bürokraten aus (…) Da diese die Vereinbarungen ablehnten, mussten Streik und Verhandlungen weitergehen. Im Anschluss an Renault wiesen alle anderen Unternehmen die Krümel zurück, mit denen die Bourgeoisie und ihre Helfershelfer gedacht hatten, die Wiederaufnahme der Arbeit zu bezahlen.

Der Inhalt der "Vereinbarungen von Grenelle” hatte sicher nichts an sich, was die Arbeitermassen zu Begeisterungsstürmen hätte hinreißen können, die wussten, dass sie schon die virtuellen Herren der Produktion waren, die sie seit zehn Tagen stillgelegt hatten. Diese Vereinbarungen erhöhten die Löhne um 7 % und setzten den gesetzlich festgelegten Mindestlohn (SMIG) von 2, 22 auf 3, 00 Francs herauf. Das heißt, dass der am meisten ausgebeutete Teil der Arbeiterklasse - besonders in der Provinz - der 348, 80 Franc im Monat verdiente, nun mit 520 Francs über eine der "Überflussgesellschaft” besser angepasste Kaufkraft verfügen durfte. Die Streiktage sollten erst dann bezahlt werden, wenn sie in Form von Überstunden abgearbeitet worden waren. Dieses Trinkgeld belastete das normale Funktionieren der französischen Wirtschaft bereits schwer genug, besonders in ihren Zwangsbeziehungen mit der EWG und in allen anderen Aspekten der kapitalistischen Konkurrenz auf internationaler Ebene. Alle Arbeiter wussten, dass solche "Vorteile” ihnen durch unmittelbar bevorstehende Preiserhöhungen wieder abgeknöpft werden würden - und noch mehr. Sie fühlten, dass es wesentlich zweckmäßiger wäre, das ganze System, das bis zu seinen äußersten Zugeständnissen gegangen war, wegzufegen, und die Gesellschaft auf einer anderen Basis zu organisieren. Der Sturz des gaullistischen Systems war ein notwendiges Vorspiel zu dieser Umkehrung der Perspektiven.

Die Stalinisten sahen, wie gefährlich die Situation war. Trotz ihrer ständigen Unterstützung war die Regierung in ihrem Bemühen, sich durchzusetzen, wieder einmal gescheitert. Nach dem Misserfolg Pompidous am 11.Mai, der versucht hatte, die Krise dadurch aufzuhalten, dass er seine persönliche Autorität im Universitätsbereich opferte, hatten nun eine Rede von de Gaulle und die Vereinbarungen, die hastig zwischen Pompidou und den Gewerkschaften abgeschlossen worden waren, eine Krise nicht überwinden können, die tief sozial geworden war. Die Stalinisten fingen an, die Hoffnung auf das Überleben des Gaullismus aufzugeben, weil sie ihn bis dahin nicht hatten retten können, /S.122/ und weil der Gaullismus die nötige Triebkraft verloren zu haben schien, um sich an der Macht zu halten. Sie sahen sich zu ihrem großen Bedauern gezwungen, sich in das andere Lager hineinzuwagen, dort, wo sie immer zu sein behauptet hatten. Am 28. und 29. Mai setzten sie auf die Karte des Sturzes des Gaullismus. Sie mussten verschiedene Faktoren berücksichtigen, die sie unter Druck setzten, an erster Stelle die Arbeiter, dann die verschiedenen Elemente der Opposition, die zu behaupten begannen, dass sie an die Stelle des Gaullismus treten würden, und denen es also passieren könnte, dass sich ihnen ein Teil derer anschloss, die in erster Linie den Sturz des Regimes wollten. Es handelte sich dabei ebenso um die christlichen Gewerkschaftler der CFDT wie um Mendès-France, um die "Fédération” des zweideutigen Mitterand wie die Versammlung der äußersten Linken zwecks einer bürokratischen Organisierung im Stadion Charléty. (Es war eines der Verdienste der Anhänger Cohn-Bendits im "22. März”, die Annäherungsversuche des in Bann gelegten Stalinisten Barjonets und anderer gauchistischer Ökumenehäuptlinge zurückzuweisen, Es versteht sich von selbst, dass die Situationisten darauf nur mit Verachtung antworteten (siehe Aufruf am 30.Mai: "Adresse an alle Arbeiter”).

Alle diese Träumer erhoben im Übrigen ihre Stimme nur im Namen der angeblichen Kraft, die die Stalinisten ins Spiel bringen würden, um ihren Nach-Gaullismus zu beginnen. Albernheiten, die in der unmittelbaren Folge sanktioniert werden sollten.

Viel realistischer waren die Stalinisten. Sie schickten sich darein, in den zahlreichen und entschlossenen Demonstrationen der CGT am 29. Mai eine "Volksregierung” zu fordern, und waren schon bereit, diese zu verteidigen. Sie wussten wohl, dass dies für sie nur einen gefährlichen Notbehelf darstellte. Wenn sie noch dazu beitragen konnten, die revolutionäre Bewegung zu besiegen, bevor diese den Gaullismus gestürzt hatte, so fürchteten sie zu Recht, dass sie sie hinterher nicht mehr besiegen könnten. Bereits am 28. Mai verkündigte ein Kommentar im Radio mit verfrühtem Pessimismus, dass die KPF sich nie wieder erholen würde, und dass die Hauptgefahr von den "situationistischen Linksradikalen” drohe.

Am 30. Mai offenbarte eine Rede de Gaulles seinen festen Willen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Er schlug vor, zwischen baldigen Legislativwahlen und dem sofortigen Bürgerkrieg zu wählen. Regierungstreue Regimenter wurden rund um Paris aufgestellt und oft genug fotografiert. Die äußerst erfreuten Stalinisten hüteten sich sehr wohl, zur Aufrechterhaltung des Streiks bis zum Sturz des Regimes aufzurufen. Sie beeilten sich, sich den gaullistischen Wahlen anzuschließen, was auch immer sie dafür bezahlen sollten.

Unter solchen Bedingungen bestand die unmittelbare Alternative /S.123/ in der autonomen Bestätigung des Proletariats oder in der totalen Niederlage der Bewegung; in der Revolution der Räte oder den Beschlüssen von Grenelle. Die revolutionäre Bewegung konnte die KPF nicht entmachten, ohne vorher de Gaulle gefeuert zu haben. Die Form der Arbeitermacht, die sich in der nach-gaullistischen Phase der Krise hatte entwickeln können, fand sich gleichzeitig durch die erneute Behauptung des alten Staates und die KPF blockiert und hatte somit keine Chance mehr, ihrer bereits in Gang gesetzten Niederlage zuvorzukommen.

8. Kapitel: Der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen (C.M.d.O.) und die Tendenzen zum Rätesystem zum vorigen Abschnittzum Seitenanfangzum naechsten Abschnitt

/S.125/
"Diese Explosion ist hervorgerufen worden von einigen Gruppen, die sich gegen die moderne Gesellschaft auflehnen, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die mechanische Gesellschaft, sei sie nun kommunistisch im Osten oder kapitalistisch im Westen. Gruppen, die im Übrigen überhaupt nicht wissen, durch was sie die bisherige Gesellschaft ersetzen würden, welche sich aber an der Negation, der Zerstörung, der Gewalt, der Anarchie ergötzen – welche die schwarze Fahne schwingen.”
De Gaulle in einer Fernsehrede am 7. Juni 1968

 

Der ‘Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen’ [Conseil pour le Maintien des Occupations (CMdO)] wurde am Abend des 17.Mai von Mitgliedern des ersten Besetzungskomitees der Sorbonne gebildet, die sich mit ihm [aus der von den linksradikalen und universitätsgewerkschaftlichen Gruppen manipulierten und blockierten Vollversammlung der Sorbonne – siehe KAPITEL IV] zurückgezogen hatten und sich für die Folge der Krise vornahmen, das Programm der Rätedemokratie aufrechtzuerhalten, das untrennbar mit einer quantitativen und qualitativen Ausdehnung der Bewegung der Besetzungen verbunden war.

Der CMdO vereinigte ständig rund 40 Personen; zu ihnen gesellten sich zeitweise andere Revolutionäre und Streikende aus verschiedenen Unternehmen, aus dem Ausland oder der Provinz, die hinterher wieder dorthin zurückkehrten. Der CMdO setzte sich fast ständig zusammen aus zehn Situationisten und ‘Enragés’ (unter ihnen Guy Debord, Mustapha Khayati, René Riesel und Raoul Vaneigem), ebenso vielen Arbeitern, rund zehn ‘Studenten’ und Gymnasiasten sowie etwa zehn weiteren Räte-Anhängern ohne bestimmte soziale Funktion.

Dem CMdO gelang es während der Zeit seines Bestehens, eine Erfahrung direkter Demokratie zu ermöglichen, die garantiert wurde durch eine gleichberechtigte Teilnahme aller an den Debatten, Entscheidungen und der Ausführung des Beschlossenen. Im Wesentlichen war er eine permanente Vollversammlung, die Tag und Nacht tagte. Keine Fraktion[s-Sitzung oder -Beratung], keine besondere Versammlung existierte je außerhalb der gemeinsamen Debatte.

Als spontan gegründete Einheit unter den Bedingungen eines revolutionären Augenblicks war der CMdO offensichtlich weniger ein Rat im eigentlichen Sinne als Räteorganisation - die also selbst gemäß dem Modell der Soviet-Demokratie funktionierte. Als improvisierte Antwort auf diesen bestimmten Augenblick konnte der CMdO sich weder als eine Räteorganisation-in-Permanenz ausgeben noch anstreben, sich - so wie er war - in eine solche zu verwandeln. Jedoch verstärkte eine fast einstimmige Zustimmung zu den situationistischen Hauptthesen den Zusammenhalt der Gruppe.

Drei Kommissionen hatten sich innerhalb der Vollversammlung gebildet, um ihre praktische Handlungsfähigkeit zu ermöglichen.

Die Druck-Kommission übernahm es, für die Verwirklichung und Vervielfältigung der Veröffentlichungen zu sorgen, indem sie einerseits die zur Verfügung stehenden Maschinen nutzte und andererseits mit den Streikenden bestimmter Druckereien zusammenarbeitete.

Die Verbindungs-Kommission war im Besitz von zehn Autos, sorgte für Kontakte mit den besetzten Fabriken und transportierte das Material, das verteilt werden sollte.

Die Bedarfs-Kommission, die sich in den schwierigsten Tagen auszeichnete, achtete darauf, dass nie Papier, Geld, Benzin und Wein fehlten.

Um die schnelle Ausarbeitung der Texte zu ermöglichen, deren Inhalt jeweils von allen gemeinsam festgelegt wurde, gab es keine ständige Kommission; vielmehr wurden jedes Mal einige Mitglieder beauftragt, die der Versammlung das Ergebnis vorlegten.

Der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen hatte für sich hauptsächlich die Gebäude des Nationalpädagogischen Instituts (INP) in der Rue d’Ulm ab dem 19. Mai besetzt. / S.127 / Gegen Ende des Monats Mai zog er in die Keller des benachbarten Gebäudes, einer ‘Kunstgewerbeschule’. Für die Besetzung des INP sprach, dass, wenn auch die Pädagogen aller Art sich in ihrem unglücklichen Beruf denunziert und verhöhnt fühlten (- Ein Plakat riet: ‘Sagt nicht mehr: Monsieur le Professeur! Sagt: Kratz ab du Schwein.’ Ein anderes erinnerte daran, dass ‘der Erzieher selbst erzogen werden muss’), viele Angehörige des Personals, Arbeiter und Techniker die Gelegenheit ergriffen, die Selbstverwaltung ihres Arbeitsplatzes zu verlangen und entschieden für die Bewegung der Besetzungen und alle ihre Kampfformen Partei ergriffen. So befand sich das ‘paritätische Besetzungskomitee’ in den Händen von Revolutionären. Ein Enragé aus Nanterre wurde als Verantwortlicher für den Sicherheitsdienst ernannt. Ale konnten sich zu dieser Wahl nur beglückwünschen, selbst die Pädagogen. Die demokratische Ordnung wurde von niemandem gestört, was die größtmögliche Toleranz erlaubte: man ließ sogar einen Stalinisten, der dem Personal angehörte, vor der Tür die ‘Humanité’ verkaufen. Die schwarze und die rote Fahne hingen gemeinschaftlich von der Fassade des Gebäudes herab.

Der CMdO veröffentlichte eine Reihe von Texten (- siehe Dokumentenanhang im Buch). Ein ‘Bericht über die Besetzung der Sorbonne’ zog am 19.Mai den Schluss:

Der Kampf der Studenten ist jetzt überholt. Noch viel mehr überholt sind alle bürokratischen Ersatzführungen, die es für geschickt halten, Respekt vor den Stalinisten vorzuheucheln, in diesem Augenblick, wo die CGT und die sogenannte kommunistische Partei zittern. Der Ausgang der aktuellen Krise liegt in den Händen der Arbeiter selbst, wenn es ihnen gelingt, bei der Besetzung ihrer Fabriken das zu verwirklichen, was bei der Universitätsbesetzung nur angedeutet werden konnte.

Am 22.Mai stellte die Erklärung ‘Für die Macht der Arbeiterräte’ fest: ‘Innerhalb von zehn Tagen sind nicht nur Hunderte von Fabriken durch die Arbeiter besetzt worden, und ein spontaner Generalstreik hat die Aktivität des Landes vollständig unterbrochen, sondern ebenso sind verschiedene Gebäude, die dem Staat gehören, durch de-facto Komitees vereinnahmt worden, die deren Verwaltung übernommen haben. Angesichts einer solchen Situation, die in keinem Fall andauern kann und die vor der Alternative steht, sich auszubreiten oder zu verschwinden (durch Repression oder durch Verhandlungen, die zur Liquidierung führen), werden alle alten Ideen vom Tisch gefegt, bestätigen sich alle radikalen Hypothesen über die Wiederkehr der revolutionären proletarischen Bewegung.’ Dieser Text zeigte drei Lösungsmöglichkeiten auf, mit stets geringer werdendem Wahrscheinlichkeitsgrad:

  1. eine Vereinbarung zwischen der KPF und der Regierung ‘zwecks Demobilisierung der Arbeiter im Austausch gegen ökonomische Vergünstigungen’; /S.130/ 
  2. die Machtübergabe an die Linke, ‘welche die gleiche Politik, aber von einer geschwächten Position aus’ machen würde; 
  3. schließlich, dass die Arbeiter für sich selbst sprechen, ‘indem sie sich der Forderungen bewusst werden, die dem radikalen Niveau der Kampfformen entsprechen, die sie bereits praktiziert haben’

Dieser Text zeigte weiter, inwieweit die Verlängerung der aktuellen Situation eine solche Perspektive enthalten könnte: ‘Die Verpflichtung, bestimmte Sektoren der Wirtschaft unter der Kontrolle der Arbeiter wieder in Gang zu setzen, kann die Basis dieser neuen Macht bilden, die durch ihr Wesen und die ganze Lage dazu gebracht sein wird, alle bestehenden Gewerkschaften und Parteien zu überflügeln. Man wird die Eisenbahnen und Druckereien für die Bedürfnisse des Kampfes der Arbeiter wieder in Gang setzen müssen. Die neuen, tatsächlichen Autoritäten werden die Lebensmittel beschlagnahmen und verteilen müssen …

Am 30.Mai tat die ‘Adresse an alle Arbeiter’ kund: ‘Das, was wir in Frankreich schon getan haben, geht um in Europa und wird bald alle herrschenden Klassen der Welt, die Bürokraten in Moskau und in Peking und die Milliardäre in Washington und in Tokio bedrohen. Wie wir in Paris alles haben tanzen lassen, so wird jetzt das internationale Proletariat noch einmal gegen die Hauptstädte aller Staaten, gegen alle Festungen der Entfremdung anstürmen. Nicht nur hat die Besetzung der Fabriken und der öffentlichen Gebäude im ganzen Land die wirtschaftlichen Produktionen blockiert, sondern auch dazu geführt, dass die Gesellschaft global in Frage gestellt worden ist. Eine tiefe Bewegung treibt fast alle Sektoren der Bevölkerung dazu, eine Veränderung des Lebens zu wollen. Es ist von nun an eine revolutionäre Bewegung, der es nur noch an Bewusstsein darüber fehlt, was sie schon getan hat, um sich diese Revolution tatsächlich zu Eigen zu machen.

Weiterhin verwarf die ‘Adresse’ ‘das bürokratisch-revolutionäre Flickwerk’, das in [dem Stadion von] Charléty zwecks einer gewissen Einigung der kleinen linksradikalen Parteien versucht worden war, und schlug das schamlose Angebot des stalinistischen Dissidenten André Barjonet ab, das dieser den Situationisten gemacht hatte. Die ‘Adresse’ machte deutlich, dass die Macht der Arbeiterräte die einzige revolutionäre Lösung sei, /S.131/ - eine, die bereits aus den Klassenkämpfen dieses Jahrhunderts herauszulesen war.

Später griff der CMdO in die Kämpfe bei Flins ein und verteilte am 8.Juni ein Flugblatt ‘Es ist noch nicht vorbei’, worin die Ziele und Methoden der Gewerkschaften in dieser Angelegenheit denunziert wurden: ‘Die Gewerkschaften kennen den Klassenkampf nicht, sie kennen nur die Gesetze des Marktes, und bei ihrem Aushandeln halten sie sich für die Eigentümer der Arbeiter … Das schändliche Manöver, um zu verhindern, dass die Arbeiter in Flins unterstützt werden, ist nur einer der ekelhaften ‘Siege’ der Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen den Generalstreik … Keine Einheit mit den Spaltern.

Der CMdO gab ebenfalls eine Reihe von Plakaten heraus, rund fünfzig Comics und einige Lieder. Die wichtigsten Texte erreichten eine Auflage von 150 – 200 000 Exemplaren. Der CMdO hatte sich natürlich bemüht, seine Theorie auf die Praxis anzuwenden, und daher an die Arbeiter der besetzten Druckereien appelliert, die gern dadurch mitarbeiteten, dass sie die ausgezeichneten Anlagen in Gang setzten, die ihnen zur Verfügung standen. (Die Auftragsdruckereien sind bekanntlich nicht so dicht mit Stalinisten durchsetzt wie die der Presse.) Diese Texte wurden auch sehr häufig in der Provinz und im Ausland nachgedruckt, sobald die ersten Exemplare dorthin gelangt waren. (Unter den ersten Wiederauflagen dieser Dokumente kann man eine schwedische Broschüre des Verlags ‘Libertad’, eine Sondernummer der Untergrundzeitung ‘Proletario’ in Venezuela sowie die in Japan von den ZenGakuRen herausgegebene Broschüre ‘Lehren aus der Niederlage der Mai-Revolte in Frankreich’ erwähnen.) Der CMdO sorgte selbst für die Übersetzung ins Englische, Deutsche, Spanische, Italienische, Dänische und Arabische sowie für eine jeweilige erste Auflage. Die spanische und arabische Version wurden zuerst unter die Arbeitsemigranten verteilt. Eine verfälschte Version der ‘Adresse’ [vom 30.Mai] wurde im ‘Combat’ vom 3.Juni abgedruckt, die Angriffe auf die Stalinisten sowie die Bezugnahme auf die Situationisten waren darin gestrichen worden.

Der CMdO bemühte sich mit bemerkenswertem Erfolg, Verbindung mit den Unternehmen, isolierten Arbeitern, Aktionskomitees und Gruppen in der Provinz einzurichten und aufrechtzuerhalten; diese Verbindung klappte besonders gut mit Nantes. Außerdem war der CMdO in allen Aspekten der Kämpfe in den Vorstädten und Paris vertreten.

Der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen kam am 15.Juni überein, sich aufzulösen. Der Rückgang der Besetzungen hatte bereits eine Woche zuvor dazu geführt, dass einige Mitglieder die Frage einer solchen Auflösung aufgeworfen hatten; sie war aufgrund des Andauerns der Kämpfe der Streikenden verschoben worden, welche die Niederlage ablehnten, besonders bei Flins.

Der CMdO hatte nicht versucht, irgendetwas für sich selbst zu erreichen, noch nicht einmal die Rekrutierung von Mitgliedern, die ihm eine dauerhafte Weiterexistenz verliehen hätten. /S.134/ Seine Teilnehmer trennten ihre persönlichen Zielsetzungen nicht von den allgemeinen der Bewegung der Besetzungen. Es waren unabhängige Individuen, die sich für einen Kampf zusammengefunden hatten, auf genau definierter Grundlage zu einem bestimmten Zeitpunkt; danach wurden sie wieder das, was sie vorher gewesen waren: einfach unabhängige Individuen. Einige von ihnen sahen in der Situationistischen Internationalen die Fortsetzung ihrer eigenen Tätigkeit und schlossen sich ihr an. (Einige außenstehende Elemente haben sich fälschlicherweise gerühmt, dem CMdO angehört zu haben, genauso wie es noch öfter vorkommt, dass sich Leute fälschlicherweise als Angehörige der S.I. ausgeben, um blöderweise irgendwelchen Rühm einzukassieren oder aus noch unklareren Motiven. Zwei oder drei ehemalige Mitglieder, in nostalgischer Erinnerung an den CMdO, haben es zweifellos nicht lassen können, in ärmlich spektakulärem Stil Nutzen aus ihrer Vergangenheit zu ziehen. Das trifft fast alle anderen CMdO-Mitglieder in keiner Weise, die so viele bemerkenswerte Fähigkeiten einsetzten, ohne dass jemand versuchte, sich in den Vordergrund zu drängen. Der Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen wird eines Tages wiederkehren mit seiner Zeit, die selbst wiederkehren muss.)

Andere ‘Räte’-Tendenzen – in dem Sinne, dass sie für die Räte waren, aber ohne ihre Theorie und Wahrheit anzuerkennen – manifestierten sich im Nebengebäude der /S.135/ philosophischen Fakultät in Censier, wo sie im Rahmen des ‘Aktionskomitee Studenten-Arbeiter’ eine etwas lahme Diskussion führten, die kaum zu einer praktischen Klärung gelangen konnte. Gruppen wie ‘Pouvoir Ouvrier’ (‘Arbeitermacht’), die ‘Verbindungs- und Aktionsgruppe der Arbeiter’ sowie eine Anzahl von Einzelnen aus Unternehmen begingen den Fehler, zu ihren ohnehin schon konfusen und sich ständig wiederholenden Debatten alle Arten von Gegnern oder Saboteuren ihrer Position zuzulassen: Trotskisten oder Maoisten, die die Diskussion lähmten - einige erlaubten sich sogar, eine antibürokratische Plattform öffentlich zu verbrennen, die von einer zu diesem Zweck ernannten Kommission ausgearbeitet worden war.

Diese Fürsprecher des Rätesystems konnten in einige praktische Kämpfe eingreifen, insbesondere am Anfang des Generalstreiks, indem einige von ihnen bei der Auslösung des Streiks oder der Verstärkung der Streikposten halfen. Aber ihr Eingriff litt häufig unter den Fehlern, die ihrer Vereinigung selbst anhafteten: es kam vor, dass Mitglieder der gleichen Delegation den Arbeitern völlig einander entgegengesetzte Perspektiven darlegten. Die anti-gewerkschaftlich eingestellte Gruppe ‘Information Correspondance Ouvrière’ [ICO], die nicht so weit ging das Rätesystem zu unterstützen, und die sich selbst nicht so genau im Klaren war, ob sie überhaupt eine Gruppe war, tagte währenddessen in einem eigenen Saal nebenan. Der Situation gegenüber gleichgültig, kaute sie dort den in ihrem Bulletin üblichen Kram durch und führte ihr Verschleppungs-Psychodrama auf: Sollte man sich an die von jedem theoretischen Körnchen reingefilterte Information halten, oder war bereits die Informationsauswahl nicht bereits von versteckten theoretischen Voraussetzungen abzuscheiden?

Allgemeiner gesagt: der Fehler aller dieser Gruppen, die ihre stolze Erfahrung aus der fernen Niederlage der Arbeiter zogen - und niemals aus den neuen Bedingungen und dem neuen Kampfstil, die sie vielmehr aus Prinzip ignorierten -, war, dass sie ständig ihre gewohnte Ideologie mit dem gleichen langweiligen Tonfall wiederholten, den sie während ein oder zwei Jahrzehnten Nichtstun angenommen hatten. Sie schienen nichts Neues in der Bewegung der Besetzungen bemerkt zu haben. Sie hatten bereits alles gesehen. Sie waren blasiert. /S.136/ Ihre gelehrte Mutlosigkeit wartete nur noch auf die Niederlage, um daraus die Konsequenzen zu ziehen wie aus allen vorangegangenen. Der Unterschied ist, dass sie in der Vergangenheit nicht die Gelegenheit gehabt hatten, an den Bewegungen, die sie analysierten, /S.137/ teilzunehmen, und dass sie diesmal den Augenblick selbst miterlebten, den sie vorzogen, jetzt bereits unter dem Blickwinkel des historischen Spektakels zu betrachten oder unter dem der wenig lehrreichen Neuauflage.

Neue Räteströmungen - vom CMdO abgesehen - tauchten in der Krise nicht auf, da die alten so unbedeutend waren, auf der theoretischen Ebene wie auf der der praktischen Wirksamkeit. Der ‘22.März’ hatte sicher einige Intentionen in dieser Richtung, wie er von allem etwas hatte; aber er stellte sie nie in den Vordergrund seiner Veröffentlichungen und zahlreichen Interviews.

Dennoch verschaffte sich im Verlauf der revolutionären Krise die Parole der Arbeiterräte immer weiter reichendes Gehör. Das war einer ihrer Haupteffekte, und das bleibt eines ihrer sichersten Versprechen. /S.126/

9. Kapitel:
Die Wiederherstellung des Staates
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/S.139/
"Jeder muss wieder den Kopf hochtragen, wieder seine Verantwortung übernehmen und den intellektuellen Terrorismus zurückweisen … Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass der Staat die Verwaltung, die öffentlichen Gebäude den Erstbesten ausliefert, seine Verantwortung aufgibt und seine Pflichten vergisst.”
Robert Poujade, Einwurf in der Nationalversammlung am 24.Juni 1968

 

/S.140/

Die Bourgeoisie hatte bis zum 30.Mai gewartet, um dem Staat offen ihre Unterstützung kundzutun. Mit der Rede von de Gaulle [Radio-Ansprache "An das französische Volk”: erklärt die Nationalversammlung für aufgelöst, kündigt ultimativ Neuwahlen für den 23.Juni an, droht mit offenem Militäreinsatz falls der Besetzungsstreik weiter geht] ergriff die gesamte herrschende Klasse wieder das Wort und behauptete massiv ihre Präsenz, nachdem sie sich vorsichtig mehrere Wochen lang hinter dem Schutz der CRS eingegraben hatte. Die Demonstration auf der

Place de la Concorde und die Champs-Élysées hinunter war die sub-versaillistische Form jener CGT-Paraden, die eine ‘Volksregierung’ verlangten. Man ließ der reaktionären Hysterie freien Lauf, - von der Angst vor ‘den Roten’ bis zu den die wahre Einstellung verkündenden Parolen wie ‘Cohn-Bendit nach Dachau!’. In diesem Zug fanden sich alte Frontkämpfer, die Überlebenden sämtlicher Kolonialkriege, die Minister, Gorillas, Kleinkrämer, die Schnuckelchen aus dem 16.Arrondissement und ihre Zuhälter aus den besseren Vierteln, die ganzen alten Schufte und alle die zusammen, die ihre Interessen und ihr Geschmack-am-Senilen dazu veranlassten, die Republik zu verteidigen und zu verzieren. Der Staat fand so seine Grundlage wieder und die Polizei ihre Hilfskräfte, die UDR und die Bürgerinitiativen. Von dem Augenblick an, in dem der Gaullismus sich entschlossen hatte an der Macht zu bleiben, schickte die nackte Gewalt die stalinistische Repression in Urlaub, die es bis dahin auf sich genommen hatte, jede revolutionäre Öffnung, besonders in den Fabriken, zuzustopfen. Nach fast drei Wochen fast völliger Abwesenheit konnte der Staat seine Komplizen von der KPF ablösen. Er sollte sich mit ebenso viel Hartnäckigkeit daran begeben, die Arbeiter wieder aus den Fabriken zu jagen, wie die Gewerkschaften sie aufgebracht hatten, um sie darin einzusperren. De Gaulle ersparte den Stalinisten die Perspektive einer ‘Volksregierung’, in der ihre damit offengelegte Rolle als letzte Feinde des Proletariats so gefährlich hätte werden können. Jetzt sollten sie mithelfen, das übrige zu erledigen.

Für die einen wie die anderen handelte es sich von nun an darum, den Streik zu beenden, damit die Wahlen stattfinden konnten. Die Ablehnung der Vereinbarungen von Grenelle hatte die Führenden gelehrt, jeder Verhandlung auf übergreifend-nationaler Ebene zu misstrauen. Man musste den Streik auf dieselbe Weise abbauen, wie er ausgelöst worden war: Sektor für Sektor, Unternehmen für Unternehmen. Die Aufgabe war langwierig und nicht einfach. Überall legten die Streikenden eine erklärte Feindschaft gegen die Wiederaufnahme der Arbeit an den Tag. Am 5.Juni tat ein Kommuniqué des CGT-Büros die Meinung kund, ‘dass überall dort, wo die wesentlichsten Forderungen erfüllt worden sind, das Interesse der Lohnabhängigen darin besteht, einheitlich und massenweise der Wiederaufnahme der Arbeit zuzustimmen.

Vom 6.Juni an begannen die Angestellten der Banken und Versicherungen wieder zu arbeiten. Als Hochburg der CGT entschied sich die SNCF [staatlich-öffentliche Eisenbahnen /Verkehrsbetriebe] ebenfalls für die Wiederaufnahme. Für den Staat setzte man die Züge wieder in Bewegung, die den Streikenden nie zur Verfügung gestellt worden waren - /S.141/ wie dies die belgischen Eisenbahner während des Streiks von 1961 getan hatten. Die ersten verfälschenden Berichte über die Abstimmung zur Wiederaufnahme der Arbeit fanden bei der Post und bei der Pariser Métro [RATP] statt, wo sich nur eine Minderheit von gewerkschaftlich Organisierten äußern konnte; die Delegierten der CGT riefen die Wiederaufnahme der Arbeit hervor, indem sie an jeder Station glauben machten, dass alle anderen den Streik beendet hätten. Die Angestellten der Station ‘Nation’ bemerkten dieses unverschämte Manöver und legten sofort die Arbeit wieder nieder, aber es gelang ihnen nicht, die Bewegung wieder in Gang zu setzen. /S.142/

Die CRS griffen nun als Hilfstruppen ein, indem sie die streikenden Techniker von France-Inter (einem Sender des staatlichen Rundfunks) hinausjagten und sie durch Techniker der Armee ersetzten.

An diesem selben 6.Juni vertrieben sie die Arbeiter aus den Renault-Werken in Flins. Das war der erste Versuch, den bis dahin in der Metallindustrie totalen Streik mit anderen als mit ideologischen Mitteln zu brechen: mit der Waffe in der Hand. ‘Die Stunde der Plänkelei ist vorbei,’ schrieben die Arbeiter aus Flins in ihrem Appell vom 6.Juni zur Wiederbesetzung der Fabrik. Sie bekamen damals zu spüren, wie sehr die Isolierung, die sie ertragen hatten, schädlich für sie war. Tausende von Revolutionären antworteten auf ihren Aufruf, aber nur einigen Hundert gelang es, sich zu ihnen durchzuschlagen, um an ihrer Seite zu kämpfen. Anlässlich eines Meetings, das von den Gewerkschaften in Elisabethville organisiert worden war, zwangen die Arbeiter den Vertreter der CGT, [dem Studentengewerkschaftssprecher] Geismar und einem Mitglied des ‘22.März’ das Wort zu erteilen - nicht weil sie diesen irgendeine Bedeutung zuerkannt hätten, sondern aus einfacher Sorge um Demokratie.

Um zehn Uhr löste der Eingriff der Gendarmerie die Zusammenstöße aus. Zwölf Stunden lang boten 2 000 Arbeiter und ‘Studenten’ 4 000 Gendarmen und CRS die Stirn, auf den Feldern und in den umliegenden Ortschaften. Sie warteten vergeblich auf Verstärkung aus

Paris. Tatsächlich hatten die CGT-Anhänger jeden Aufbruch der Arbeiter von Boulogne-Billancourt verhindert (- in der Nacht vom 9. zum 10. Juni war eine Delegation von Arbeitern aus Flins in die besetzte Fakultät sowie nach Boulogne-Billancourt gekommen, zwecks Bitte um Hilfe. Studenten zogen los; in Billancourt schlossen aber die CGT-Streikposten der Delegation die Fabriktore. Die unüberwindbaren Mauern, welche die Arbeiter gefangen hielten, trennten genauso gut die Arbeiter aus zwei Fabriken wie aus ein und demselben Unternehmen – eben Renault Boulogne-Billancourt und Renault Flins), und diese CGT-Anhänger setzten sich am Bahnhof St.Lazare dagegen ein, dass den Tausenden von Demonstranten, die gekommen waren sich in Flins mit der Staatsgewalt zu schlagen, Züge zur Verfügung gestellt wurden. Die Organisatoren der Demonstration, Geismar und Sauvageot, waren auch nicht besser. Sie wichen vor der CGT zurück und vollendeten das was diese begonnen hatte dadurch, dass sie diejenigen, die meinten, sie könnten zur Unterstützung nach Flins fahren, davon abhielten, einen Zug zu kapern, und dass sie bei den ersten Absperrungen der Polizei die Teilnehmer der Demonstration dazu aufriefen, sich zu zerstreuen. Der arme Geismar erhielt dafür jedoch nicht die rechte Belohnung. Dieser Schwindler wurde nämlich trotzdem als ‘Provokationsspezialist’ abgestempelt in einem besonders schuftigen Kommuniqué der CGT. In diesem zögerte die CGT nicht, die Revolutionäre aus Flins als Gruppen ‘die der Arbeiterklasse fernstehen’ abzuqualifizieren und als ‘quasi-militärische Formationen, die sich bereits bei Vorgängen gleicher Art in der Pariser Region bemerkbar gemacht haben’ und die ‘offenbar im Dienste der schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse handeln’. /S.145/ ‘Denn’, so die CGT weiter, ‘es ist schwer zu glauben, dass die Arroganz der Arbeitgeber der Metallindustrie, die Unterstützung, die ihnen die Regierung zukommen lässt, die Brutalitäten der Polizei gegen die Arbeitnehmer und diese Provokationsversuche keine abgekartete Sache sind.

Beinahe überall gelang es den Gewerkschaften, die Wiederaufnahme der Arbeit anzukurbeln; man hatte ihnen bereits einige Krümel vorgeworfen. Nur die Metallarbeiter leisteten weiterhin Widerstand. Nach dem Scheitern in Flins versuchte der Staat noch einmal sein Glück in Sochaux, bei Peugeot. Am 11.Juni griffen die CRS gegen die Arbeiter ein, die Auseinandersetzung war sehr gewalttätig und dauerte mehrere Stunden. Zum ersten Mal im Verlauf dieser langen Krise feuerten die Ordnungsstreitkräfte Schüsse in die Menge ab. Zwei Arbeiter wurden getötet. In diesem Augenblick konnten die CRS das wagen, ohne Proteste hervorzurufen. Die Bewegung war bereits besiegt, und die politische Repression begann.

Jedoch am 12.Juni kam es zu einer letzten Nacht der Auflehnung, nachdem bei den Kämpfen um Flins ein Gymnasiast getötet worden war. In dieser Nacht wurden sogar einige Neuerungen eingeführt: die rasche Vermehrung der Barrikaden und das systematische Werfen von Molotowcocktails auf die Ordnungskräfte von den Dächern herab.

Am Tag danach verordnete der Staat die Auflösung der trotskistischen und maoistischen Organisationen sowie des ‘22.März’ aufgrund eines Gesetzes der Volksfront[regierung], das ursprünglich gegen die para-militärischen Organisationen der äußersten Rechten gerichtet gewesen war.

(Dieser Vorwand war schlecht gewählt: diese [linksradikalen] Gruppen hatten nie Milizen bewaffnet. - Alle Revolutionäre bezeugten selbstverständlich ihre praktische Solidarität angesichts dieser Repression. Derartige Polizeimaßnahmen sind übrigens besonders unangemessen angesichts einer Bewegung, deren originellster Charakterzug die autonome und nicht-hierarchische Organisationsform war. – Viele Kommentare über diese Auflösungsanordnungen gefielen sich darin, die Situationisten und den ‘22.März’ in einen Topf zu werfen. Einzig und allein unter solcherart gegebenen Umständen dementiert die S.I. diese Behauptung in der Öffentlichkeit damals nicht.)

Mit der gleichen äußersten Rechten [auf deren Unterdrückung also seinerzeit diese Auflösungsgesetze gemünzt waren] liebäugelte jetzt der Gaullismus. Bei dieser Gelegenheit erweckte man auch den 13. Mai wieder zu neuem Leben. [D.h.: jene Ereignisse vom 13. Mai bis zum 2.Juni 1958, wo de Gaulle mit Hilfe eines OAS-Putsches die IV. Republik beendete und sich so, gestützt auf die rechtsextremen Algerienkolonialverbände, selbst an die Macht brachte.] Die [inzwischen nach Strasbourg] ausgewiesenen OAS-Verantwortlichen kamen nach Frankreich zurück. Salan durfte Tulle verlassen, während es die äußerste Linke war, welche die Festung in Gravelle zu bevölkern begann. /S.146/

Es lag ein verfaulter Geruch in der Luft, seitdem die Trikoloren auf der Place de la Concorde wieder aufgetaucht waren. Händler, Provokateure, Pfaffen und Patrioten steckten ihre Nasen wieder an die Luft und taten sich wieder auf den Straßen wichtig, wohin sie noch vor einigen Tagen nicht gewagt hatten den Fuß zu setzen.

Von der Polizei bezahlte Spitzel provozierten Araber und Juden in Belleville und erzeugten so die Spaltung dieses Viertels genau in dem Augenblick, wo überall die Bemühungen fortgesetzt wurden, um noch besetzte Unternehmen und öffentliche Gebäude zu räumen.

Eine Verleumdungskampagne sah es auf ‘die Katangesen der Sorbonne’ ab. Die jämmerlichen Linksradikalen verfehlten es nicht, in diese Falle hineinzutappen. Nach dem Scheitern des Versuchs der direkten Demokratie dort hatten sich in der Sorbonne verschiedene kleine Feudalherren niedergelassen; sie waren ebenso lächerlich wie bürokratisch gewesen. Diejenigen, welche die Presse ‘Katangesen’ nannte - Ex-Fremdenlegionäre, Arbeitslose und Deklassierte -, hatten sich schnell zu den wahren Chefs einer Republik-kleiner-Chefs aufgeschwungen. Die Sorbonne erhielt so die Meister, die sie verdient hatte, und obwohl auch die ‘Katangesen’ das Autoritäts-Autoritäts-Spiel mitspielten, hätten sie doch so jämmerliche Mitspieler nicht verdient. Gekommen, um an der Fete teilzunehmen, fanden sie nichts als pedantische Lieferanten der Langeweile und der Ohnmacht; die Kravetz’ und Peninous. Als die Studenten sie nun hinausjagten, /S.147/ taten sie dies in der dümmlichen Hoffnung, durch diese Gemeinheit zu erreichen, dass man ihnen die dauerhafte Verwaltung einer desinfizierten Sorbonne als ‘Sommeruniversität’ überließe. Einer der ‘Katangesen’ konnte zu Recht bemerken: ‘Die Studenten sind vielleicht gebildet, aber intelligent sind sie nicht. Wir waren gekommen um ihnen zu helfen …’

Der Rückzug der Unerwünschten ins Odeon [-Theater] führte dort sofort zum Eingriff der Ordnungskräfte. Die letzten Besetzer der Sorbonne hatten genau 48 Stunden Zeit, die Mauern zu säubern und die Ratten hinauszujagen, bevor die Polizei erschien und ihnen klarmachte, dass der Spaß zu Ende sei. Sie gingen, ohne auch nur den Anschein von Widerstand zu geben. Nach dem Scheitern der Bewegung konnten nur noch diese geistigen Idioten glauben, dass der Staat die Sorbonne nicht wieder übernehmen würde.

Um den Erfolg der Wahlkampagne zu gewährleisten, musste man die letzten Horte des Widerstandes brechen. Die Gewerkschaften - und nicht das Kapital - gaben bezüglich der Vereinbarungen nach. Was dann der [KPF-Tageszeitung] ‘Humanité’ erlaubte, der ‘siegreichen Wiederaufnahme der Arbeit’ zu applaudieren, und der CGT, die Metallarbeiter dazu aufzufordern, ‘ihren Erfolg zu krönen durch einen Sieg der vereinten Kräfte der Linken auf der Basis des gemeinsamen Programms der nächsten Legislativwahlen’. /S.148/

Renault, Rhodiaceta und Citroen nahmen die Arbeit am 17. bzw. 18.Juni wieder auf. Der Streik war zu Ende. Die Arbeiter wussten, dass sie fast nichts erreicht hatten; aber indem sie den Streik über den 30.Mai hinaus verlängerten und ihn so langsam abbrachen, machten sie auf ihre Art klar, dass sie etwas anderes wollten als ökonomische Vorteile. Ohne es sagen zu können, ohne Zeit zu haben sie zu machen, hatten sie die Revolution gewollt.

Nach der Niederlage der Revolution war es nur natürlich, dass der Wahlkampf der verschiedenen Parteien der Ordnung mit einem überwältigenden Erfolg derjenigen Partei endete, die am besten verstand, diese zu verteidigen.

Der Erfolg der Gaullisten wurde von den letzten Maßnahmen begleitet, /S.149/ welche die Sachlage wieder an den Ausgangspunkt zurückführen sollten. Alle besetzten Gebäude wurden evakuiert. Es darf an dieser Stelle bemerkt werden, dass der Staat die erste Juliwoche 1968 abgewartet hat, um das grundlegende juristische Argument ins Feld zu führen, dass ‘die Besetzung der für einen öffentlichen Dienst bestimmten Gebäude illegal ist’. Zwei Monate lang hatte er dieses Argument der Bewegung der Besetzungen nicht entgegenhalten können. (Man hatte zu mehr oder weniger trügerischen Vorwänden Zuflucht nehmen müssen, um die Wiedereroberung des Odeon, der Sorbonne und der Akademie der Künste durch die Polizei zu rechtfertigen.)

Die Akte des Vandalismus, die den Beginn der Bewegung der Besetzungen gekennzeichnet hatten, fanden sich an seinem Ende mit größerer Gewalt wieder - als Zeugnis der Ablehnung der Niederlage und der eindeutigen Absicht, den Kampf fortzusetzen. So konnte man in LeMonde vom 6.Juli lesen, um nur zwei exemplarische Handlungen zu zitieren: ‘Mit Eiern, Butter, Puder, Waschmittel, schwarzer Farbe und Öl vollgeschmierte Teppichböden; herausgerissene, rot angestrichene Telefonapparate; durch Hammerschläge zerstörte IBM-Schreibmaschinen; schwarz bemalte Fensterscheiben; verstreute und mit Farbe besprengte Medikamente; unbrauchbar gemachte, mit Tinte bekleckste Krankenblätter; mit Spritfarbe geschwärzte Behandlungskarteien; obszöne oder beleidigende Inschriften: das ist das Bild, das am Mittwochmorgen alle medizinischen Behandlungsräume (das Sekretariat und die Sozialabteilung mit einbegriffen, die mit Hilfe einer wütenden Inschrift in ‘Asozial-Abteilung’ umgetauft worden war) eines der wichtigsten psychiatrischen Krankenhäuser, das Hospital St.Anne, bot. Ein Bild, das demjenigen erstaunlich ähnlich ist, das sich den Beobachtern in Nanterre geboten hatte, wo man die gleichen Verwüstungsmittel anwandte und wo man ebenfalls auf allen Mauern Inschriften ähnlichen Stils oder Geistes fand. Man kann sich fragen, ob es nicht eine Verbindung gegeben hat zwischen den kürzlich eingetretenen /S.151/ Veränderungen rein beruflicher Art in dieser Abteilung und diesen vandalischen Akten.’ Und im ‘Combat’ vom 2.Juli liest man: ‘Monsieur de Jacquenot, der Direktor des Modellgymnasiums von Montgeron, schreibt uns: Im Allgemeininteresse ist es meine Aufgabe, Ihnen die absolut skandalösen Umtriebe mitzuteilen, die sich in letzter Zeit in der Essone-Gegend Kommandos unverantwortlicher ‘Enragés’, die sich auf eine gewisse ‘situationistische Internationale’ berufen, haben zuschulden kommen lassen. Im Gegensatz zu dem, was die Presse dazu hat verlauten lassen, haben sich diese traurigen Individuen als schädlicher und gar nicht ‘folkloristisch’ erwiesen. Die Zeit des Wohlwollens ist zu Ende, und diese schändlichen Beschädigungen der Totengedenkstätten, Kirchen, Klöster und öffentlichen Gebäude, zu denen sie sich haben hinreißen lassen, dürfen ganz einfach nicht mehr toleriert werden. Nachdem sich diese Elemente in der Nacht vom 13. zum 14. Juli in unsere Anstalt einschlichen, haben sie sich daran gemacht, rund dreihundert Plakate, Flugblätter, Lieder, Comicstrips anzukleben. Aber die Schäden rühren im Wesentlichen von der systematischen Farbschmiererei her, mit der die Mauern des großen und des technischen Kollegiums bedeckt worden sind. Am 21.Juni, als die Polizei bereits eine /S.153/ Untersuchung eingeleitet hatte, und als ob man sie damit herausfordern wollte, wurden neue Beschädigungen (Plakate, Flugblätter, Aufschriften mit Tinte) im Inneren der Gebäude am hellichten Tage begangen.’ Herr Jacquenod hält es für seine Aufgabe, die öffentliche Meinung auf diese ‘Akte des Vandalismus’ aufmerksam zu machen, die ‘dem friedlichen Klima, zu dem wir allmählich wieder gelangen, stark schaden.

10. Kapitel:
Die Perspektive der Weltrevolution nach der Bewegung der Besetzungen
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/S.155/
"Die Situationistische Internationale hat Wind gesät; sie wird Sturm ernten.”
‘internationale situationniste’, Revue N°8 / Jan.1963

[Schluss des Kapitels: ab S.158 Mitte]

(…)

Auch Frankreich gehört weiterhin zur Vulkankette der neuen Geographie der Revolutionen. Nichts ist geregelt worden. Der revolutionäre Ausbruch rührte nicht von einer ökonomischen Krise her, sondern hat ganz im Gegenteil dazu beigetragen, eine solche Krisensituation zu schaffen. Was im Mai offen angegriffen wurde, war die entwickelte, kapitalistische, gut funktionierende Wirtschaft; aber diese Ökonomie, einmal durch die negativen Kräfte ihrer historischen Aufhebung gestört, kann danach nur weniger gut funktionieren; dadurch wird sie umso hassenswerter und trägt so zur Verstärkung der ‘schlechten Seite’ bei, des revolutionären Kampfes, der sie umgestaltet. Das studentische Milieu ist zu einer dauerhaften Festung der Unordnung in der französischen Gesellschaft geworden, und diesmal handelt es sich nicht mehr um die Unordnung in einer getrennten Jugend. /S.159/ Die großen bürokratischen Apparate zur Einordnung der Arbeiterklasse haben ihren Sieg über den Streik sehr teuer bezahlt: viele Arbeiter haben verstanden, was mit ihnen los ist. Was die kleinen linksradikalen Parteien angeht, die anscheinend gestärkt sind - insbesondere durch die ungerechte Auflösung durch die Polizei -, so sind sie von nun an potenziell verurteilt. Der unauffällige Korb voller Krebse, den sie bildeten, hat seinen Inhalt während des Streiks unter den Schlaglichtern überallhin verstreut, aber immer noch rückwärts krabbelnd.

Die Perspektive der Weltrevolution holte einen immensen Rückstand auf - ihr halbes Jahrhundert Abwesenheit -, als sie in Frankreich wieder auftauchte, und sie hatte daher sogar einige verfrühte Aspekte. Die Bewegung der Besetzungen ist, bevor sie die Macht des Staates gebrochen hatte, mit dem sie zusammenstieß, dorthin gegangen, wohin alle anderen Bewegungen - mit Ausnahme der von 1905 [in Russland, als die Arbeiterräte erfunden wurden] - erst hinterher angelangt sind. Die bewaffneten Kommandos, die dem Staat zur Verfügung stehen, waren nicht vernichtet worden. Und doch erinnerte die Besetzung gewisser Gebäude, ihre allgemein bekannte Verteilung unter verschiedene subversive Gruppierungen, an einige Züge des Barcelona vom Sommer 1936.

Zum ersten Mal ist in Frankreich der Staat ignoriert worden: das war die erste handelnde Kritik an dem Jakobinismus, der so lange der schlechte Traum der revolutionären französischen Bewegungen gewesen ist, einschließlich der Commune. Das heißt, dass sich der plötzlichen Wiederkehr der revolutionären französischen Besonderheit - ein weiteres Mal erweckten die Barrikaden von Paris Europa - radikal neue Elemente beimischten. Wie es nicht genügte, den Staat einfach zu ignorieren, so gab es sicherlich noch nicht genügend klare Perspektiven. Zu wenig Leute hatten sich die Kenntnis der kohärenten radikalen Theorie angeeignet, und ihre Verbreitung in den Massen musste äußerst ungünstige Bedingungen überwinden: neben der der bestehenden Ordnung zur Verfügung stehenden Macht der spektakulären Information bestanden die konterrevolutionären Bürokratien, die erst von zu Wenigen entlarvt worden waren. So darf man sich nicht über die zahlreichen Schwächen der Bewegung wundern, man sollte lieber über ihre Kraft staunen.

Die radikale Theorie ist bestätigt worden. Sie hat sich in unermesslichem Ausmaß verstärkt. Sie muss sich nun überall als das erkennen lassen, was sie ist, alle Anstrengungen der aus dem letzten Loch pfeifenden Rekuperateure unterbinden. Diejenigen, die sie tragen, durften bereits keine Konzessionen machen. Sie müssen noch anspruchsvoller werden, ausgehend von der Position der Stärke, welche die Geschichte ihnen gibt. Nicht weniger als die internationale Macht der Arbeiterräte kann sie zufriedenstellen: sie können keine revolutionäre Macht anerkennen außerhalb der Räteorganisationen, die sich in allen Ländern bilden werden. Die objektiven Bedingungen der Revolution haben ihre Gegenwart ans Tageslicht gebracht, sobald die Revolution wieder angefangen hat, als subjektive Macht zu sprechen. /S.160/ Hier ist ein Feuer entfacht worden, das nicht erlöschen wird. Die Bewegung der Besetzungen hat dem Schlaf aller Herren der Ware ein Ende gesetzt, und nie wieder wird die spektakuläre Gesellschaft ruhig schlafen können.

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