Maintal Oktober 1998

Nadja Rakowitz

Religion, Staat, Gesellschaft

 

In dem Text »Zur Judenfrage« diskutiert Marx - als Kritik an der Antwort Bruno Bauers auf die »Judenfrage« - das Verhältnis des modernen Staats zur Religion und zur bürgerlichen Gesellschaft. »Bauer hat die Frage der Judenemanzipation neu gestellt, nachdem er eine Kritik der bisherigen Stellung und Lösungen der Frage gegeben. Wie, fragt er, sind sie beschaffen, der Jude, der emanzipiert werden, der christliche Staat, der emanzipieren soll? Er antwortet durch eine Kritik der jüdischen Religion, er analysiert den religiösen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum, er verständigt über das Wesen des christlichen Staates ... Wie also löst Bauerlkijü+o+o die Judenfrage? Welches Resultat? Die Formulierung der Frage ist ihre Lösung. Die Kritik der Judenfrage ist die Anwort auf die Judenfrage.« [1] Es genügt aber nicht, zu untersuchen, wer emanzipieren, wer emanzipiert werden soll. Die Kritik hat bei Marx immer auch ein Drittes zu tun. Hier muß sie fragen, um welche »Art der Emanzipation« es sich handelt und welche Bedingungen im Wesen der verlangten Emanzipation begründet sind? [2] Mit der Kritik an der Judenfrage, wie sie Bruno Bauer stellt, verbindet sich die Kritik der politischen Emanzipation selbst und »ihre wahre Auflösung in die 'allgemeine Frage der Zeit'.« [3]

Um diese diskutieren zu können, unterscheidet Marx im folgenden analytisch zunächst drei Ebenen des Verhältnisses von Staat zu Religion:
1. das historische;
2. das logische;
3. das inhaltlich gesellschaftliche.

Das historische Verhältnis des Staats zur Religion diskutiert er am Beispiel Deutschlands. Hier existiere, so das Marxsche Argument, noch kein politischer Staat, kein Staat als Staat, deshalb sei die Judenfrage hier noch eine rein theologische Frage. Dieser »Staat«, hier selbst noch Theologe, lege das Glaubensbekenntnis des Christentums noch auf offizielle Weise ab und wage sich noch nicht als Staat zu proklamieren. [4]

Das historische Verhältnis des Staats zur Religion [5] ist aus der Perspektive des Staates bzw. des Staatsrechts rückblickend gekennzeichnet durch seine Entstehung aus den christlichen Monarchien des Mittelalters.

An den USA, bzw. deren und der französischen verfassungsrechtlichen Konstruktion diskutiert Marx die logischen Momente des Verhältnisses von Staat zur Religion. Hier gelten dem Staat alle Religionen gleich; die christliche Religion wird zur Besonderheit wie alle anderen Religionen auch. [6] Deshalb verliere hier die Judenfrage ihre theologische Bedeutung und werde zu einer wirklich weltlichen Frage [7] , und der - atheistische, demokratische - Staat verweise die Religion unter die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweist. [8] Zunächst einmal besteht also theoretisch für den modernen, politischen Staat kein Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum. Dieser kann nur historisch bestehen, da der »Staat« als vorbürgerlicher eben christlicher Staat war. Hier setzt die erste Kritik an Bauer an, der diese beiden Ebenen nicht auseinander hält. Die politische Emanzipation der Juden im modernen Staat ist demnach keine Frage nach dem spezifischen Charakter der jüdischen Religion, sondern sie ist mit der Trennung von Staat und Religion als Charakteristikum des modernen Staats gegeben.

Welchen Charakter hat aber eine Emanzipation, die durch die staatlich gewährte Religionsfreiheit [9] garantiert wird? Die Kritik an der Diskussion der »Judenfrage« wird hier zur Kritik an der politischen Emanzipation und damit zur »Kritik des politischen Staats.« [10]

Damit ist man auf der Ebene des gesellschaftlichen Inhalts des Verhältnisses von Staat zu Religion bzw. der des Inhalts des Verhältnisses Staat zu denn besonderen Momenten der bürgerlichen Gesellschaft, von denen die Religion nur noch eines ist. Marx unterscheidet die politische Emanzipation in diesen frühen Schriften von dem, was er menschliche Emanzipation nennt:

»Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise der menschlichen Emanzipation ist.« [11]

Die Grenze der politischen Emanzipation erscheine darin, daß der Staat sich von einer Schranke, nämlich der religiösen, also christlichen Begründung befreien kann, »ohne daß der Mensch wirklich von ihr frei wäre«. [12] Marx unterscheidet hier zunächst den Staat von den Verhältnissen der Menschen, so wie der Staatsbürger zunächst vom Menschen unterschieden wird; zugleich wird aber der Staat als von den Menschen konstituiert begriffen. Der Mensch scheint sich zu verdoppeln, indem er sich zwei verschiedene Sphären des Umgangs miteinander schafft, die staatliche und die gesellschaftliche. Er befreie sich »auf einem Umweg, durch ein Medium, wenn auch durch ein notwendiges Medium ... indem er sich politisch befreit.« [13] Politisch heißt hier zunächst staatlich. Die Trennung, Zersetzung oder auch Verdopplung des Menschen in »religiösen Menschen und in den Staatsbürger ... ist die politische Emanzipation selbst, sie ist die politische Weise, sich von der Religion zu emanzipieren« [14] und insofern die bloß politische Weise ist, auch zu kritisieren. Die Emanzipation von der Religion heißt bis jetzt aber nur, daß Religion nun zur Privatsache und deshalb in der Gesellschaft angesiedelt, nicht mehr konstitutives Moment des Staats ist.

Es stellen sich hier folgende Fragen:

Wofür steht bzw. stand das Christentum? Wie hat sich der Staat verändert, der die christliche Religion als »Band« nicht mehr braucht?

Mit dem Christentum war schon lange vor der bürgerlichen Gesellschaft die Idee des Menschen gesetzt. Der christliche Gott ist so gedacht, daß vor ihm alle Menschen gleich seien, auch wenn sie in der mittelalterlichen christlichen bzw. Kirchenlehre in einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur fixiert waren. Die hierarchische Gliederung galt jedoch zunächst nur für die Welt, nicht für den Tag, an dem man vor den Herrn trat. Die Geschichte des Christentums ist voll von Beispielen an Bewegungen, die das Gleichheitsideal und das Gemeindeprinzip, den Menschen als Gemeinwesen, auch irdisch verwirklicht wissen wollten. [15] Zugleich ist sie die Geschichte des Widerspruchs zwischen Herrschaftslegitimation und Utopie vom menschlichen Gemeinwesen.

Mit der französischen Revolution hat sich nun das Ideal von der Freiheit und Gleichheit der Menschen verweltlicht. Zunächst bestimmt Marx das Verhältnis des modernen, vollendeten, also des demokratischen Staates zur Religion so, daß in ihm »die menschliche Grundlage der Religion auf weltliche Weise ausgeführt ist.« [16] Das Dasein der Religion sei aber das Dasein des Mangels. Sie sei, wie Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt, verkehrtes Weltbewußtsein, weil die Welt eine verkehrte Welt sei. »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« [17] Nun könne nun die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staats selbst gesucht werden. Die Religion gilt Marx nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen, gesellschaftlichen Beschränktheit.

»Nicht das Christentum, sondern der menschliche Grund des Christentums ist der Grund dieses (des demokratischen, N.R.) Staates ... Christlich ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch ... als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch ... wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, sich selbst verloren, veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente gegeben ist, mit einem Wort, der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist.« [18]

Das ist die Ebene, wo das Verhältnis des Staats zur Gesellschaft diskutiert wird, wie es aus der Perspektive des Staats erscheint.

»Den Widerspruch des Staats mit einer bestimmten Religion ... vermenschlichen wir in den Widerspruch des Staats mit bestimmten weltlichen Elementen, den Widerspruch des Staats mit der Religion überhaupt, in den Widerspruch des Staats mit seinen Voraussetzungen überhaupt.« [19]

Wie sieht dann das Verhältnis des Staats zu den besonderen Bestimmungen aus? Die Argumentation bezüglich der Religion wird auf das Privateigentum und auf andere gesellschaftliche Bestimmungen übertragen:

»Der Staat als Staat annulliert z.B. das Privateigentum, der Mensch erklärt auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben, sobald er den Zensus für aktive und passive Wählbarkeit aufhebt ... Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft«. [20]

Der vollendete politische Staat ist - in den bürgerlichen Staatskonzeptionen, müßte man hinzufügen - so bestimmt, daß er seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen darstelle - im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. [21] Bürgerliche Gesellschaft und Staat stehen sich nun also gegenüber. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führe der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in Wirklichkeit ein doppeltes Leben. [22] In der bürgerlichen Gesellschaft, der Sphäre des Privatinteresses, des bellum omnium contra omnes, gilt sich der Mensch als Privatmensch und sich selbst und den andern in dieser Bestimmung als wirkliches Individuum, ist aber unwahre Erscheinung. Im Staat dagegen, der Sphäre des allgemeine(n) Interesses gilt sich der Mensch als Gemeinwesen bzw. als Gattungswesen, ist aber erfüllt mit einer unwirklichen Allgemeinheit. [23] In der bürgerlichen Gesellschaft ist er bourgeois, im Staat citoyen.

Daß der moderne Staat als ideale Sphäre der allgemeinen Angelegenheiten von diesem abstrahiert, macht seinen Fortschritt gegenüber den früheren Formen und zugleich seinen Mangel aus. Alle Voraussetzungen des egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. [24] Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiere der Staat, so die Marxsche Argumentation weiter, vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung. Er mache seine Allgemeinheit geltend nur im Gegensatz zu diesen seinen Elementen. [25] Aus dieser Perspektive, aus der Perspektive des Staats erscheinen die Momente der bürgerlichen Gesellschaft auch als gleichrangige. Ob man christlich ist oder jüdisch oder nicht gläubig, ist gleichgültig; ob man Kaufmann oder Tagelöhner, Kapitalist oder Lohnarbeiter ist, ebenfalls. Gesellschaftliche Bestimmungen erscheinen als solche im Staat nicht mehr. Die politische Revolution, welche den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, d.h. als wirklichen Staat konstituierte, zerschlug notwendig alle Stände, Korporationen; sie hob damit, so Marx, den politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft auf und zerschlug die bürgerliche Gesellschaft in ihre einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, andrerseits in die materiellen und geistigen Elemente. [26]

»Die politische Emanzipation war zugleich die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik, von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts. Die feudale Gesellschaft war aufgelöst in ihren Grund, in den Menschen. Aber in den Menschen, wie er wirklich ihr Grund war, in den egoistischen Menschen. Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist von ihm als solcher anerkannt in den Menschenrechten.« [27]

Die staatlich gewährten Rechte werden unterschieden in die Staatsbürgerrechte, die droits du citoyen, als politische Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit andern ausgeübt werden und deren Inhalt die Teilnahme am Gemeinwesen, und zwar am politischen Gemeinwesen, am Staatswesen, bilde, und die eigentlichen Menschenrechte, die droits de l'homme. [28]

Wer ist der »vom citoyen unterschiedene homme? Niemand anders als das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Warum wird das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft 'Mensch', Mensch schlechthin, warum werden seine Rechte Menschenrechte genannt?«[29]

»Der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, der unpolitische Mensch, erscheint aber notwendig als der natürliche Mensch. Die droits de l'homme erscheinen als droits naturels, denn die selbstbewußte Tätigkeit konzentriert sich auf den politischen Akt. Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundne Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewißheit, also natürlicher Gegenstand. Die politische Revolution ... verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis.« [30] Als natürlicher, frei und gleich an Rechten geboren erscheint der Mensch zum Beispiel in der französischen Konstitution von 1793, der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen:

»Article 2.: Ces droits ... sont: l'égalité, la liberté, la sûreté, la propriété.«

Worin besteht die liberté?

»Article 6.: La liberté est le pouvoir qui appartient à l'homme de faire tout ce qui ne nuit pas aux droits d'autrui.« [31]

Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet, so Marx Kommentar. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. [32]

»Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade ... Aber das Menschenrecht auf Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums.« [33]

Das Menschenrecht des Privateigentums ist das Recht, willkürlich »ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes«. [34] Was als natürliche Bestimmung des Menschen erschien, ist historisches Resultat der Entwicklung hin zur bürgerlichen Gesellschaft; der »natürliche« Mensch ist das Individuum als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Diese wiederum erscheint aus der Perspektive des Staats als Ansammlung von Eigentümern, als Eigentümergesellschaft. Keines der Menschenrechte geht über den egoistischen Menschen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Die Gesellschaft selbst erscheint nur als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Der Staat erscheint in der Theorie bzw. in der Verfassung als diese notwendige Schranke, als die Instanz, die die Zaunpfähle zwischen die Felder setzt, um das Eigentum der Einzelnen zu sichern. [35] Die Erhaltung der Menschenrechte ist in der Deklaration der Menschenrechte der »Endzweck jeder politischen Vereinigung«. [36] Damit ist das Verhältnis von homme zu citoyen umgekehrt, der homme als bestimmter erkennbar, als bourgeois:

»(W)ir sehen, daß das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, daß also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, endlich nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird.« [37]

Wenn, wie Marx schreibt, alle Emanzipation Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst ist, dann ist die politische Emanzipation die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. [38] Darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. [39]

Diese wäre erst dann möglich, wenn der Mensch in seiner sinnlichen individuellen Existenz als gesellschaftlicher allgemein werden würde, wenn also sich die Sphäre der allgemeinen Angelegenheiten nicht in eine neben der Gesellschaft als Gewaltverhältnis bestehende setzen müßte. Voraussetzung davon wäre aber, die notwendige Voraussetzung des Staats aufzuheben. Diese liegt in der bürgerlichen Gesellschaft.

»Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« [40]


Fussnoten

1)Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin 1978, S.348; im folgenden zitiert als: Zur Judenfrage

2)Vgl. Zur Judenfrage, S.350

3)Zur Judenfrage, S.350 - "Sie ist (bei Bauer, N.R.) die Frage von dem Verhältnis der Religion zum Staat, von dem Widerspruch der religiösen Befangenheit und der politischen Emanzipation." ebd., S.349

4)Vgl. Zur Judenfrage, S.357 - "Der sogenannte christliche Staat ist der unvollkommene Staat, und die christliche Religion dient ihm als Ergänzung und als Heiligung seiner Unvollkommenheit. Die Religion wird ihm daher notwendig zum Mittel, und er ist der Staat der Heuchelei ... (er erklärt) für seine Grundlage ... die Religion (wird) zur unvollkommenen Politik ... Der sogennante christliche Staat bedarf der christlichen Religion, um sich als Staat zu vervollständigen ... (er) verhält sich dagegen politisch zur Religion und religiös zur Politik." Zur Judenfrage, S.358

5)Die Religion wird dadurch, daß sie "zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden" .ist ... "zum Ausdruck der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, was sie ursprünglich war." Zur Judenfrage, S.356 

6)"Nur wo der politische Staat in seiner vollständigen Ausbildung existiert, kann das Verhältnis des Juden, überhaupt des religiösen Menschen, zum politischen Staat, also das Verhältnis der Religion zum Staat, in seiner Eigentümlichkeit, in seiner Reinheit heraustreten". Zur Judenfrage, S.351

7)Vgl. Zur Judenfrage, S.351 - Als Zwitter wird dagegen Frankreich beschrieben, weil dieses zwar ein konstitutioneller Staat, der Schein einer Staatsreligion als die Religion der Mehrheit aber beibehalten sei; "hier ist es eine Frage der Halbheit der politischen Emanizipation". ebd 

8)Zur Judenfrage, S.357 - Marx unterscheidet Demokratie und demokratischen Staat. Über letzteren schreibt er in der Kritik des Gothaer Programms daß, die "vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht", keine Ahnung davon hat, "daß gerade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist". Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms; in MEW 19, Berlin 1978, S.29

9)"Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit." Zur Judenfrage, S.369

10)Zur Judenfrage, S.351 - Komplizierter wird diese Argumentation durch die Einschätzung von Marx, daß in Deutschland, aufgrund der besonderen historischen Entwicklungen, die politische Emanzipation nur als menschliche Emanzipation möglich sei: "In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, a.a.O., S.391

11)Zur Judenfrage, S.353 - "Wir haben also gezeigt: Die politische Emanzipation von der Religion läßt die Religion bestehn, wenn auch keine privilegierte Religion ... Die Emanzipation des Staats von der Religion ist nicht die Emanzipation des wirklichen Menschen von der Religion." ebd., S.361

12)Vgl. Zur Judenfrage, S.353

13)ebd., - In »der Republik als einer nur besondern Staatsform, hat der politische Mensch sein besonderes Dasein neben dem unpolitischen, dem Privatmenschen.« Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, a.a.O., S.231f

14)Zur Judenfrage, S.357 

15)Sie haben in der Regel ein recht irdisches Schicksal genommen, wurden verbannt, verbrannt, gemordet, bekehrt ...

16)Zur Judenfrage, S.358 - Der Staat drücke »in seiner Wirklichkeit als Staat die menschliche Grundlage aus ..., deren überschwenglicher Ausdruck das Christentum ist.« ebd., S.357

17)Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, a.a.O., S.378 - »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volks ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« ebd., S.379

18)Zur Judenfrage, S.360 - Wirkliches Gattungswesen könnte er erst in der wirklichen Demokratie sein; diese ist zu unterscheiden vom demokratischen Staat: »In der Demokratie erlangt keines der Momente eine andere Bedeutung, als ihm zukommt. Jedes ist wirklich nur Moment des ganzen Demos ... in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar Selbstbestimmung des Volks ... in der Demokratie (haben wir) die Verfassung des Volks. Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen ... allein der spezifische Unterschied der Demokratie ist, daß hier die Verfassung überhaupt nur ein Daseinsmoment des Volkes, daß nicht die politische Verfassung für sich den Staat bildet ... So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine besondre Staatsverfassung ... Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein ist ... In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip. Sie ist erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Besondern ... Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr für das Ganze gilt ... In der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende Moment zu sein.« Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, a.a.O., S. 230ff

19)Zur Judenfrage, S.352 - Deshalb zählt auch der demokratische Staat, weil er der Staat der bürgerlichen Gesellschaft ist, also »wegen des Mangels, der im allgemeinen Wesen des Staats liegt, die Religion unter seine Voraussetzungen«. ebd., S.358

20)Zur Judenfrage, S.354 - Dies ist »die Vollendung der politischen Emanzipation, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebensowenig aufhebt, als aufzuheben strebt.« ebd., S.356f

21)Vgl. Zur Judenfrage, S.354 - »Die politische Revolution ... entfesselte den politischen Geist, der gleichsam in die verschiedenen Sackgassen der feudalen Gesellschaft zerteilt, zerlegt, zerlaufen war; sie sammelte ihn aus dieser Zerstreuung, sie befreite ihn aus seiner Vermischung mit dem bürgerlichen Leben und konstituierte ihn als Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheiten in idealer Unabhängigkeit von jenen besondern Elementen des bürgerlichen Lebens.« ebd., S.368 (Hervorhebung N.R.)

22)Vgl. Zur Judenfrage, S.354f

23)Vgl. Zur Judenfrage, S.355

24)Vgl. Zur Judenfrage, S.354

25)Vgl. ebd.

26)Vgl. Zur Judenfrage, S.368 - In der Kritik des Hegelschen Staatsrechts führt Marx den Unterschied zum Mittelalter diesbezüglich aus: »Im Mittelalter gab es Leibeigene, Feudalgut, Gewerbekorporation, Gelehrtenkorporation etc., d.h., im Mittelalter ist Eigentum, Handel, Sozietät, Mensch politisch; der materielle Inhalt des Staates ist durch seine Form gesetzt; jede Privatsphäre hat einen politischen Charakter oder ist eine politische Sphäre, oder die Politik ist auch der Charakter der Privatsphären. Im Mittelalter ist die politische Verfassung die Verfassung des Privateigentums, aber nur, weil die Verfassung des Privateigentums politische Verfassung ist. Im Mittelalter ist Volksleben und Staatsleben identisch.« Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, a.a.O., S.233

27)Zur Judenfrage, S.369 - Hier kommt Marx noch einmal auf Bruno Bauer zurück, der leugnet, daß die Juden - auch wenn sie politisch emanzipiert werden könnten, die Menschenrechte in Anspruch nehmen und empfangen könnten: »Die Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten liegt sowenig im Begriff der Menschenrechte, daß das Recht, religiös zu sein, auf beliebige Weise religiös zu sein ... vielmehr ausdrücklich unter die Menschenrechte gezählt wird. Das Privilegium des Glaubens ist ein allgemeines Menschenrecht.« ebd., S.363

28)Vgl. Zur Judenfrage, S.362

29)Zur Judenfrage, S.363f

30)Zur Judenfrage, S.369

31)Zur Judenfrage, S.364

32)Vgl. Zur Judenfrage, S.364

33)Zur Judenfrage, S.364 - »Jene individuelle Freiheit, wie jene Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.« ebd., S.365

34)Zur Judenfrage, S.365 - Die »Unabhängigkeit« des Privateigentums von der Gesellschaft ist Ausdruck der Widersprüchlichkeit bürgerlicher Begrifflichkeit. Es bedarf einer bestimmten historischgesellschaftlichen Entwicklung, daß die Menschen überhaupt als Privateigentümer in Erscheinung treten können. Ihre vermeintliche Unabhängigkeit von der Gesellschaft ist selbst gesellschaftliche Bestimmung. Es gehört konstitutiv zur Form des Rechts, von diesem Zusammenhang zu abstrahieren. In den Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie wird diese Vorstellung als Zirkulationsvorstellung kritisiert, denn die Individuen erscheinen als unabhängige nur für den, »der von den Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen, obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedingungen, d.h. von den Individuen unkontrollierbare), abstrahiert, unter denen diese Individuen in Berührung treten.« Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Berlin 1983, S.97

35)»Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen - deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war - vollzieht sich in einem und demselben Akte.« Zur Judenfrage, S.369 - »Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.« ebd., S.366

36)Erklärung der Menschenrechte (1789-1791), Artikel II; in: Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek bei Hamburg 1991, S.10

37)Zur Judenfrage, S.366

38)Vgl. Zur Judenfrage, S.370

39)Vgl. Zur Judenfrage, S.361 - Der demokratische moderne Staat ist noch nicht Demokratie.

40)Zur Judenfrage, S.370

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