Entgegnung auf: »Über die Herkunft des Judentums« von Hartmut Dicke. März 2004

P.C.

Was ist der Gegenstand des Antisemitismus und seiner Vernichtung?

Reflexionen zu 2 Texten zur historisch-materialistischen Deutung des Judentums und zur Kritik der Deutung S.Freuds

zum Seitenende

Seit KARL MARX' Kritik der »Judenfrage«-Stellung im Ausgang der HEGELschen Geschichtsphilosophie (1844/45 festgemacht an dem Vorlaeufer des deutschen linken Antisemitismus, dem »radikalen« LinksHEGELianer BRUNO BAUER) hat sich die historisch-materialistische Kritik der Judophobie und des »Antisemitismus« kaum entwickelt. Die Abfertigung der full-blown antisemitischen Volksbewegung ein halbes Jahrhundert spaeter durch F.ENGELS, A.BEBEL e.a. als »der Sozialismus der dummen Kerls«, als der Antikapitalismus der Idioten, und spaeterhin als »Revolte gegen die kapitalistische Modernisierung« (so noch POSTONE 1979) usw. traf zwar durchaus eine wichtige Komponente, wird jedoch dem eigentlichen Komplex des antisemitischen Massenwahns beileibe nicht gerecht, der vielmehr mit der defetischisierenden, entmystifizierenden Methode von MARX zu begreifen und zu erforschen ist in seiner objektiv-subjektiv wechselbedingten Totalität als eine besondere Form der »Religion des Alltagslebens« (zu diesem Begriff siehe MARX, der ihn als Resümee der »trinitarischen Form«, d.h. der entfalteten Fetischgestaltungen des Gesamtprozesses der kapitalistischen Reproduktion schuf, DAS KAPITAL III, in MEW 25: 838).

Die Vermittlung und überhaupt die Untrennbarkeit der modernen Judophobie von der kapitalistischen Gesellschaftsform hat MAX HORKHEIMER (in: DIE JUDEN UND EUROPA. (1939) Amsterdam 1968, S.8) als Leitsatz für historisch-materialistische Analyse mitbezeichnet in seiner ebenso bekannten wie gültigen Formulierung über das faschistische Phänomen: »WER ABER VOM KAPITALISMUS NICHT REDEN WILL, SOLLTE AUCH VOM FASCHISMUS SCHWEIGEN.« Viele akademische bzw. institutionalisierte »Antisemitismusforscher« aus der deutschen Linken tun seit geraumer Zeit so, als hätte gewissermaßen der »Faschismus« bzw. «Nationalsozialismus« mit dem Gegenstand ihrer Analyse überhaupt nichts zu tun, denn wenn sie in ihrer Zunft und in der bürgerlichen Öffentlichkeit vom »Antisemitismus« reden, pflegen sie vom Kapitalismus geradezu brüllend zu schweigen.

Die moderne Entwicklung der uralten Judophobie zum »Antisemitismus« (begrifflich ist diese Bezeichnung ein Unsinn, nimmt sie doch das rassistische Phantasma von »den Semiten« bzw. »dem Semitismus« einfach beim Wort) als der besonderen Ausformung der kapitalistischen Alltagsreligion, also einer totalen Mystifikation, zum sozialpsychologischen Wahnsystem, das im Massenumfang mörderische Tathandlungen zur Folge hat und epidemische Verlaufsformen aufweist, hat ebenfalls MAX HORKHEIMER im Angesicht des deutschen eliminatorischen AS (in einem Brief an HAROLD LASKI 10.3.1941) zu der scharfsichtigen und notwendigen Schlussfolgerung geführt:

»As true as it is that one can understand Antisemitism only from our society, as true it appears to me that by now society itself can be properly understood only through Antisemitism«,

wobei wir heute feststellen müssen, dass sich seit DER KATASTROPHE (hebräisch: shoa), die HORKHEIMERs Einschätzung historisch unmittelbar darauf gültig bestätigt hat, die Historischen MaterialistInnen die unlösbare Wechselseitigkeit der Analyse von BÜRGERLICH-KAPITALISTISCHER Gesellschaft und DEUTSCHEM ELIMINATORISCHEM »Antisemitismus« als von der geschichtlichen Erfahrung unhinterschreitbar gesetzte Leitlinie für die wissenschaftlich-communistische Methode, nämlich als uns durch den wirklichen Verlauf der Klassenkämpfe im 20.Jahrhundert AUFGEZWUNGENE, uns abgeforderte KONKRETISIERUNG zu begreifen haben, damit wir sowohl die »Anatomie« (MARX) des Kapitalismus als auch die »Pathologie des Antisemitismus« (properly=) ANGEMESSEN UND RICHTIG VERSTEHEN KÖNNEN.

Denn dass und wie Bourgeoisie UND Proletariat in und ALS DEUTSCHLAND -- wenn auch mit verteilten Rollen -- die nichtabgeschlossene bürgerliche und proletarische Revolution in die »permanente Konterrevolution« gegen alle Elemente der communistischen Revolution und antibürgerlichen Subversion verkehrten, diese Elemente symbolisch und teils auch wirklich hauptsächlich in den Juden in Europa konzentriert sahen, abspalteten und vernichteten, dass die deutschen Täter, Mitmacher, Zuschauer, Wegschauer usw. aller Gesellschaftsklassen mit diesem Vernichtungswerk stellvertretend für die Bourgeoisien der ganzen bürgerlichen Welt -- die ihrerseits den Juden nicht rechtzeitig half sondern ihre Flucht behinderte und ihrer Vernichtung ruhig kalkulierend zusah (hier ist die SU durchaus noch mit eingeschlossen) -- die konterrevolutionäre »Endlösung« der Frage der proletarischen Revolution symbolisch und wirklich zu exekutieren auf sich nahm (den »Antisemitismus der Vernunft«, nämlich der schon lange auf diese Konsequenz zulaufenden, sich selbst dabei zugleich zerstörenden Vernunft der Bourgeoisie realisierend), dass also in der deutschen Sonderrolle und Besonderheit der deutschen Zustände, der deutschen Misere, die hierin kulminierte, zugleich die ganze konterrevolutionäre Gewalt des modernen Kapitalismus gebündelt und konzentriert gegen die Juden und alle menschlich-gattungsmäßigen universalistischen kulturellen und mentalen Werte, die sie verkörpern bzw. darstellen, gerichtet und mit/in ihnen vernichtend exekutiert wurde, diese traumatisierende Erfahrung hat für die revolutionären Menschen den Blick sowohl geschärft als auch verblendet für den endlich wahrzunehmenden Zusammenhang.

Diesen epochal neuen Zusammenhang hatte ADORNO erstmals 1940 (an HORKHEIMER 5.8.) mit seiner hohen historischen Sensibilität erfasst und vorsichtig aber klar formuliert:

»Mir geht es allmählich so, auch unter dem Eindruck der letzten Nachrichten aus Deutschland, dass ich mich von dem Gedanken an das Schicksal der Juden überhaupt nicht mehr losmachen kann. Oftmals kommt es mir so vor, als wäre ALL DAS, WAS WIR UNTERM ASPEKT DES PROLETARIATS ZU SEHEN GEWOHNT WAREN, HEUTE IN FURCHTBARER KONZENTRATION AUF DIE JUDEN ÜBERGEGANGEN. Ich frage mich, ob wir nicht (...) die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, IM ZUSAMMENHANG MIT DEN JUDEN sagen sollten, DIE DEN GEGENPUNKT ZUR KONZENTRATION DER MACHT DARSTELLEN.«

Seitdem kommen Historische MaterialistInnen nicht mehr an der VERSCHIEBUNG der Frage der proletarischen Revolution auf die »Judenfrage«, d.h. aber in Wirklichkeit auf die »Antisemitismus«-Frage, vorbei, deren wissenschaftlich-communistische Beantwortung in der Theorie erst ihre revolutionäre Auflösung in der Praxis (mit MARX gesprochen: die Verwandlung der Waffe-der-Kritik in die Kritik-der-Waffen zum Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung) möglich macht, wenn sie die EIGENTLICH ZU SAGENDEN Wahrheiten über communistische Revolution und bürgerliche Konterrevolution nunmehr zwingend vermittelt = IM ZUSAMMENHANG MIT DEN JUDEN sagen muss.

Warum aber durchaus auch »mit den Juden«, wenn es doch eigentlich um den »Antisemitismus«, das sozialpathologische Wahnsystem der »Antisemiten«, geht ? ADORNO hat auch hierin richtig formuliert: einen »Antisemitismus«, d.h. zur besonderen Alltagsreligion ausgewucherten judophoben Wahn, kann es nicht geben ohne sein nicht nur symbolisches, sondern in ihm sich wahnhaft-verzerrt dargestelltes, damit aber auch real- historisches Substrat. Denn nur für einen (selber als eine Art solipsistischen Realitätsverlust, erkenntnistheoretischen »Wahn« zu erklärenden) »radikalen Konstruktivismus« (das, was z.B. KANT schon in Gestalt des subjektiv-idealistischen Agnostizismus des Bischoffs BERKELEY als »Skandal in der Philosophie« bezeichnet hat) reduziert sich die objektiv an sich gegebene Welt auf bloße subjektive Signifikanten (Bezeichnendes, Repräsentanten, Zeichen, Symbole, Bilder) OHNE WIRKLICHE Signifikate (Bezeichnetes, Repräsentiertes, durch Zeichen,Symbole,Bilder usw. geistig-mimetisch reproduzierte Entsprechungen) und diesen letztinstanzlich wiederum zugrundeliegende materiell-real-seiende »Referenten« (objektiv an-sich-seiende = reale Gegenstände und Prozesse im materiellen Lebensprozess der Menschen).

Wie alle Wahnsysteme, so hat auch der »radikale Konstruktivismus« und die auf ihm aufsitzende poststrukturalistische »Dekonstruktion« allerdings sein wahres Moment, das noch im Realitätsverlust seiner falschen Verabsolutierung einen bedeutenden, gegenüber allem naiv-mechanisch-«materialistischen« Reduktionismus korrektiven Erkenntnisfortschritt ausdrückt. Nur muss seine Akzentsetzung dialektisch zurechtgerückt werden. Hier führt kein Weg an der von MARX erschlossenen Methode vorbei -- als »tertium datur« zwischen »Nominalismus« und »Realismus«-der-Begriffe.

In der Tat: »bloßes Konstrukt« ist zwar das Zerrbild, das Phantasma »der Jude«, -- ebenso wie die Phantasmagorie des Warenfetischs »das Gebrauchsding das seinen Preis kostet weil es Wert hat als stoffliche Eigenschaft wie eine chemische Substanz«, bzw. des Geldfetischs »Geld regiert die Welt« bzw. des Kapitalfetischs »Wer Kapital hat oder zu machen versteht besitzt das Geheimnis von Reichtum und Macht: Madame LaTerre, Monsieur LeCapital, NichtarbeitendeBesitzer von Geld-das-arbeitet« usw. bloßes Konstrukt der menschlichen Köpfe und des menschlichen Handelns (gesellschaftliches Arbeiten das im Austausch von Privatarbeiten seinen gesellschaftlichen Charakter erst erweist, Lohnarbeit die ihr Produkt als fremde Macht sich selbst gegenüberaufhäuft) ist; gerade deshalb ist es aber als Phantasma auf sein gesellschaftliches Substrat als an-sich-seiende, objektive Wirklichkeit rückführbar, enträtselbar und so auch praktisch auflösbar, es geht also keineswegs auf im »bloßen Konstrukt« in der Bedeutung bloßer Subjektivität, absurder Halluzination, »des Unsagbaren, nicht auf den Begriff zu bringenden, des gesellschaftlichen Irrationalen schlechthin«.

Zur Phantasmagorie der gesellschaftlichen Wert- und Warenform im Gegensatz zum einfachen individuell- physiologischen optischen Wahrnehmen, der sinnlichen Anschauung eines wirklichen äusseren Gegenstandes durchs Auge arbeitet MARX genau heraus (MEW 23: S.86:):

»Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten.«

Damit ist die klare Abgrenzung der historisch-materialistischen Methode gegen die »Naturalisierung« bezeichnet, die gerade auch die »antisemitische« Alltagsreligion vornimmt mit ihrem personifikatorisch-verdinglichenden Konstrukt/Phantasma »der Jude«: er wird -- auch ohne dass er physisch unmittelbar dasein, sichtbar sein muss, als eine Projektionsfigur religiöser Art aus objektiv gegebenen, in Wirklichkeit gesellschaftlichen Beziehungen von Menschen heraus in eine naturgegeben-physiologische Gegenständlichkeit -- deswegen auch letztendlich als biologisch-genetische »Rasse« -- subjektiv halluziniert.

Nun gilt es aber dieses Konstrukt/Phantasma bzw. diese Halluzination selber auf seine/ihre REIN GESELLSCHAFTLICHE GEGENSTÄNDLICHKEIT, ihre objektiv ansichseienden Grundlagen zurückzuführen, wenn die perfekt geschlossen-scheinende, naturalisierende Mystifikation aufgelöst/gesprengt werden soll. Zu untersuchen ist also: Welchem objektiven gesellschaftlichen Sein entspringt diese besondere subjektive Form falschen Bewusstseins? Hier kommen der Konstruktivismus und seine »linken« diskurstheoretischen, dekonstruktivistischen Varianten nicht weiter, sie gehen dann gewöhnlich ins Moralisieren über: »den Juden« gibt es nicht in der Wirklichkeit! und wer überhaupt über die »wirklichen« Juden sprechen möchte, kann ja nur Antisemit sein!

Für den »radikalen Konstruktivismus« und die auf ihm aufsitzende »Dekonstruktion« besteht die Welt aus Zeichen, Bildern und Diskursen, endlosen Signifikantenketten und Texten und Subtexten allein, die sich ihre »Wirklichkeit(en)« immerfort im (falschen oder richtigen?!) Bewusstsein selbst konstruieren und wo ein »Klassenkampf« allerhöchstens wahrgenommen wird, wo er um diskursive »Definitionsmacht«-Dispositive tobt; aber damit ist die historisch-materialistische Frage nach der Entstehung, Enträtselung, Defetischisierung innerhalb des zugrundeliegenden objektiv-ansichseienden gesellschaftlichen Seins der Menschen in ihrer Reproduktion des materiellen und ideellen Lebensprozesses, ihrer wirklichen Klassenverhältnisse und -kämpfe a limine verboten, wird als »reduktionistisch«, »naiv-realistisch«, »ökonomistisch« und überhaupt »vorwissenschaftlich« verpönt und diskriminiert, unterliegt einem strengen, umfassenden Denkverbot.

Dieses hatte schon der junge MARX praxistheoretisch durchbrochen, wenn er feststellte: »Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen« (MEW Erg.Bd I:578). So geht er konsequent auch bei der Kritik der politischen Ökonomie vor; gegen Begriffsrealismus und Nominalismus, gegen die Naturalisierung wie gegen die Derealisierung historisch-gesellschaftlicher Formen führt er einen permanenten methodologischen Zweifrontenkampf:

(MEW 23,105f:) »Indem man aber die gesellschaftlichen Charaktere , welche Sachen [erhalten], oder die sachlichen Charaktere, welche gesellschaftliche Bestimmungen der Arbeit auf Grundlage einer bestimmten Produktionsweise erhalten, für bloße Zeichen [erklärt], erklärt man sie zugleich für willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen. Es war dies beliebte Aufklärungsmanier des 18.Jahrhunderts ...« -- wozu MARX noch HEGEL zitiert:

»Betrachtet man den Begriff des Werts, so wird die Sache selbst nur als ein Zeichen angesehn, und sie gilt nicht als sie selber, sondern als was sie wert ist.«

MARX dazu: »Weil Geld in bestimmten Funktionen durch bloße Zeichen seiner selbst ersetzt werden kann, entsprang der andere Irrtum, es sei ein bloßes Zeichen. Andererseits lag darin die Ahnung, dass die Geldform eines Dings ihm selbst äusserlich und bloße Erscheinungsform dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse [ist]. In diesem Sinne wäre jede Ware ein Zeichen, weil als Wert nur sachliche Hülle der auf sie verausgabten menschlichen Arbeit.«

Diese methodologischen Eckpunkte sollen nur andeuten, warum die historisch-materialistische Analyse des ZUSAMMENHANGS von allgemeiner kapitalistischer und besonderer »antisemitischer« Alltagsreligion so schwierig ist und deshalb nach MARX' auch die Erkenntnistheorie umstürzendem äusserst anspruchsvollen Ansatz, der nur von wenigen überhaupt begriffen worden ist (vor allem von GEORG LUKÁCS, ISTVÁN MÉSZÁROS e.a.) bis heute noch so unentwickelt geblieben. Noch erbärmlicher steht es mit der Erklärung der von ADORNO erkannten VERSCHIEBUNG vom revolutionären Subjekt/Objekt »Proletariat« auf »die Juden« als dem »Gegenpunkt« der konzentrierten Konterrevolution im 20.Jahrhundert. Beide Problemkomplexe oder uns aufgegebenen Rätsel sind noch kaum wahrgenommen und schon garnicht begriffen, denn MARX und ADORNO, die sie allererst auf einen Begriff brachten, repräsentieren hier nur erst die großen Ausnahmen von der Regel wissenschaftlich- interessierter Borniertheit der Ideologieproduzenten bis tief in »die Linke« hinein.

Hier stehen sich heute noch zwei Lager oder Linien gegenüber: die kapitalistisch bornierten linken Bürger, für die revolutionärer communistischer Antikapitalismus mit der Bekämpfung des »Antisemitismus« tendenziell unvereinbar ist, weil es für sie »totalitäres« ideelles, verbales und symbolisches »Aggressionsversprechen« und »antizivilisatorische« weil gegen das Gewaltmonopol des Staates der bürgerlichen Demokratur gerichtete »Gewalt« schlechthin bedeutet, einerseits -- und die latent-judophob bornierten »radikalen«, in Wahrheit oberflächlich und spiessbürgerlich-«antikapitalistischen« Linken mit ihrem verbissenen stummen Konsens, entweder dass die Thematisierung und Bekämpfung der antisemitischen Alltagsreligion nur »der Klassenfrage« und »dem Klassenkampf« des internationalen oder national gedachten »Proletariats« oder -- noch lieber ohne »Proletariat« gedacht: -- »der Einheit und den Aufgaben der Linken« im Wege steht, in einer Kapitalismuskritik also erstmal nur ein Störfaktor wäre und jedenfalls bewusstseinsmäßig wie praktisch »nur der Spaltung dienen« und deshalb wieder nur eine Unterwerfung unter diese oder jene Bourgeoisie bzw. unter diesen oder jenen »Imperialismus« darstellen könnte, darum besser erstmal zu umgehen, zu vermeiden, zu ignorieren, hintanzusetzen, tieferzuhängen, »dem (Anti-) Kapitalismus« unterzuordnen, kurz: dass der Kampf gegen den Antisemitismus entschieden als irgendeine Art »Nebenwiderspruch« zu behandeln (im günstigeren Fall) oder gleich als »zionistische Weltverschwörung im Dienste des Imperialismus« zu denunzieren (im graduell sich manifestierenden enthemmt-antisemitisch motivierten Fall) sei.

Zwischen diesen zwei Extremen der bestehenden Linken gibt es viele Zwischenstufen -- vor allem in der Mitte einen breiten Sumpf der »passiven Resistenz« gegen die Wahrnehmung der Problemstellung und die Aktualität ihres Primats überhaupt --; und ebenso viele Übergangsformen existieren an den Rändern über diese Pole hinaus (gegen die Linke schlechthin sich wendend ins offen prokapitalistische Lager hinüber auf der einen Seite -- nach der Devise: »Besser gar keine Kapitalismuskritik als eine, die ja zwangsläufig antisemitisch wirken muss!«-- und spiegelverkehrt dazu in den offenen Antisemitismus verfallend im Furor gegen »den Judenstaat« und »die Zionisten mit den von ihnen gekauften Agenten« samt allen antisemitischen Klischees »auf links«.

Was aber den Zusammenhang mit DEN JUDEN betrifft, den die wissenschaftlich-communistische Kapitalismuskritik und »Antisemitismus«-Bekämpfung gleichermaßen aufzuzeigen haben, so ist diese Fragestellung -- nicht bei MARX, nicht bei ADORNO e.a., aber um so mehr bei »Marxisten«, Adorniten und den meisten Linken seis traditionalistisch-orthodoxer, seis (de)konstruktivistisch-diskurstheoretischer Provenienz -- so tabuisiert und diskriminiert, weil erstens der ganze Bereich -- am intensivsten und »moralisch gefährlichsten« in der BRD -- aufgrund der ungeheuersten Schuldaufladung der Geschichte durch die Shoa unter einem »Bann« steht (treffend wiederum von ADORNO auf den Begriff gebracht), welcher selbstverständlich von der herrschenden Klasse als äusserst wirksamer, furchterregender Staatskultus, nämlich als neuer Gründungsmythos und institutionalisierte »Erinnerungspolitik« verwaltet und eingesetzt wird sowie als Machtdispositiv umkämpft (siehe hierzu z.B. sehr klärend den scharfsichtigen »philosemitischen« rechten Bourgeois-Ideologen und Systemtheoretiker DIETRICH SCHWANITZ, der es wissen muss, in seinem sehr empfehlenswerten Buch »DAS SHYLOCK-SYNDROM« 1997, S.376-382); zweitens aber ist die ADORNOsche Frage nach dem »Zusammenhang mit DEN JUDEN« dermaßen tabuisiert und diskriminiert, weil die relativ wenigen linken, gar »marxistischen« Kritiker, die diese Frage überhaupt begriffen und zu beantworten versucht haben, meistens dabei schon bald auf fürchterliche und abschreckende Weise abgestürzt sind.

Wir können hier nicht auf einzelne Beispiele eingehen -- wie etwa auf den trotzkistischen Klassiker ABRAHAM LÈON, der in seinem kühnen, großangelegten Versuch KAPITALISMUS UND JUDENFRAGE, kurz bevor er im Vernichtungslager ermordet wurde, sogar »der jüdischen Nase« rassenforschend nachgestiegen ist, um zu beweisen, dass die Juden sich diese in Wirklichkeit ja von »der dinarischen Rasse« in den Alpenregionen geholt hatten ... (ähnlich wie Jahrzehnte später die Altmeisterin der Judaistik, SALCIA LANZMANN, in ihrem Buch »DIE JUDEN ALS RASSE« noch ähnliches unternahm, um, allerdings nicht als Linke sondern umgekehrt, als glühende Verteidigerin des Bürgertums und des Staates Israel als bürgerlichem Modell, den Antisemitismus auf seinem eigenen Terrain auszuhebeln) -- sondern lediglich auf Skylla und Charybdis hinweisen, zwischen denen die revolutionäre Methode des wissenschaftlichen Communismus bei dieser Frage hindurchmuss.

Ein MARX hat die Frage nicht gescheut sondern aufgegriffen, neu gestellt und in erster, vernünftig-abstrakter Annäherung beantwortet: wie »die Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen (Beispiel: Frankreich und USA) und des christlich-germanisch-preussischen Deutschland im besonderen mit den darin lebenden wirklich-historischen Juden zusammenhängt. Seine Antwort: im historisch-gesellschaftlichen Dasein der CHIMÄRE DES »GELDMENSCHEN« (MEW 1:375) und im Doppelleben des Bürgers als homme bourgeois und homme citoyen besteht dieser Zusammenhang, kommt es zu dieser Verschiebung.

Hier finge die Enträtselung der vertrackten Subjekt-Objekt-Identität von gesellschaftlichem Sein und verkehrtem Bewusstsein an, die Arbeit der historisch-materialistischen Analyse, aufzuzeigen: wie, warum, wodurch die historisch-empirischen Juden in Europa in die Rolle geraten, immer wieder in die Situation gekommen sind, im Verlauf der Genesis der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft für das Unbehagen der Bürger (einschliesslich der Besitzer non nichts als der Ware Arbeitskraft, von nichts als der Staatsbürgerschaft) im eigenen Widerspruch und Gespaltensein, für den Neid und Hass der proletarisierten Menschen (Nichtbürger) gegen »die Geldmenschen« ... DIE Projektionsfigur darzustellen, welche die besondere, judophobe Alltagsreligion zur zugespitzten, »repräsentierenden« oder substituierenden Form der allgemeinen, kapitalistischen Alltagsreligion -- gerade und zunehmend, wiederkehrend in der Krisenhaftigkeit und katastrophischen Zyklizität der kapitalistischen Entwicklungsgesetze -- werden lässt.

Und auch ein ADORNO hat die Frage nicht vermieden, sondern schmerzhaft gestellt und zu erhellen versucht, warum die Elemente und wie die Täter, die sie als Stigmata an den Juden festmachten, die wirklichen Juden zu Opfern stempeln konnten. (Er hat sich z.B. dabei auch nicht gescheut, das Phänomen der »jüdischen Nase« zu analysieren und kam im Gegensatz zu etwa A.LÉON zu dem materialistisch viel weiter führenden Aufweis der unterdrückten analen, phallischen und sonstigen Triebbesetzung dieses körperbildlichen Symbols für einen Genuss und eine Genussfähigkeit, die den Unterdrückten/Unterdrückenden versagt ist und auf solche realen Projektionsfiguren fixiert werden kann, die historisch-empirisch eine besondere Kultur repräsentieren, an der die Wunsch- und Neid-Projektion vom Reichtum und savoir vivre ebenso wie vom »schmutzig-niedrig- materialistisch«Triebbefriedigenden, zugleich von Triebunterdrückung als Sublimationstechniken, bürgerlicher und weltläufiger Kultur, Lebensart und Zivilisation und von alledem als Geheimnis ... tatsächlich ansetzen kann. Siehe zu dieser körperbildlich-naturalisierenden-rassifizierenden Projektionsleistung in: DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG).

ADORNO setzte dabei die nicht wegzudenkende historische Stelle des Judentums in der Genese des europäischen Kapitalismus selbstverständlich voraus, die Zuweisung der Geldgeschäfte, die den andren verboten waren, usw.usf. (vgl. MEW 1:376 »Das Judentum erreicht seinen Höhepunkt mit der Vollendung der bürgerlichen Gesellschaft«), wenn er auf die Verselbständigung des modernen antisemitischen Wahns um so mehr hinweist, der tatsächlich schliesslich weitgehend ohne sein historisches Urbild auskommt und die verschiedensten Komponenten dessen, was der »antisemitisch« Gläubige für »unser Unglück« hält, gerade auch was er sich als »Kapitalismus« zusammenreimt, auf die Juden loslässt, von denen er vielleicht gar keine/n kennt oder umgekehrt sogar der persönlichen Freundschaft pflegen mag.

DER WIRKLICHE ZUSAMMENHANG der »antisemitischen« Alltagsreligion mit den empirisch-historischen Juden (»nicht als ein abstraktes, sondern ein höchst empirisches Wesen« MEW1:377) UND DIE MÖGLICHE VERSCHIEBUNG der gewöhnlichen, allgemeinen kapitalistischen Alltagsreligion auf die Juden konzentriert sich -- der Analyse von MARX und ADORNO e.a. folgend -- also offensichtlich auf DAS PERSONIFIZIERTE GELD/KAPITAL. Die Projektionsleistungen der »Realabstraktion«, die beide Alltagsreligionsformen blind und zwanghaft vornehmen, sind zumindest struktur-analog. Sie kristallisieren sich unübersehbar, unleugbar um den geschlossensten, verblendendsten, perfektesten zentralen Fetisch der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise: ums Geld.

Diese leitmotivisch-zentrale Stelle des »chimärischen Geldmenschentums«, die MARX entdeckt und -- wenn auch anfangs in der Darstellungsweise häufig schrecklich kurzschliessend (siehe unseren laufenden Bericht über den Lektürekurs MARX ZUR »JUDENFRAGE« auf dieser Webpage) -- erstmals vernünftig-abstrakt herausgearbeitet hat als historisch-materialistischen Lösungsweg, nicht mehr und nicht weniger, ist angesichts aller im modernen Kapitalismus hinzukommenden, sich ankristallisierenden Elementen des AS auch von ADORNO niemals infragegestellt sondern immer weiter entfaltet, konkretisiert worden.

Entscheidend für die Vermeidung des Absturzes in »antisemitische« Stereotypen ist vielmehr -- nicht die Abstinenz/Diskriminierung des wissenschaftlich-deskriptiven bzw. analytisch-deutenden Nachvollzugs des vorfindlichen Stereotyps, also vor allem das Verbot, »Juden« und »Geld« zusammenzusehen und zusammenzudenken, sondern: -- die streng wissenschaftliche Abstinenz von der vorab-moralischen WERTUNG der historisch-empirisch vorgefundenen Zusammenhänge und ihrer ideologisch-phantasmagorisch zu analysierenden Verknüpfungen.

Einmal provokativ zugespitzt formuliert: was wäre denn eigentlich »schlimm« daran, wenn tatsächlich »die Juden« die Welt regierten, das Kapital gänzlich in ihren Händen hätten usw. usf. ?! Das moralisch wertende Urteil des antisemitischen »Antikapitalismus« und/oder Neids gegen irgendwelche »raffenden« Geldgeschäfte und diejenigen Menschen, die er wahnhaft einzig damit identifiziert, kehrt sich ja gegen den Antisemiten selbst, sobald klar ist, dass erstens Geld und Kapital keine Wesenseigenschaft irgendeiner besonderen Menschengruppe sind, welchen die geheimnisvolle Macht der Reichtumsanhäufung auf Kosten anderer bei der Verteilung der Güter irgendwie biologisch-genetisch-mystisch gegeben ist, sondern dass diese Fetischformen Geld und Kapital, zweitens, ein äusserst hochentwickeltes gesellschaftliches Produktionsverhältnis der Menschen darstellen, eine jenseits von Gut und Böse stehende, überhaupt nicht moralisch erfassbare, ungeheuer reich und produktiv entwickelte historische Stufe menschlicher Gesellschaftlichkeit in der Reproduktion des materiellen Lebensprozesses, die nicht durch Personifizierung und Naturalisierung ihrer Gesetzmäßigkeiten sondern einzig durch rationelle, transparente Regelung ihres Gesamtzusammenhangs durch die Gesellschaft selber als bewusstem Subjekt dieser Reproduktion von ihren Mängeln und zerstörerischen Widerspruchsformen befreit, also nicht durch Eliminierung irgendwelcher Menschen, sondern nur durch Aufhebung in eine communistische Produktion und Verteilung einer höheren, besser funktionierenden und menschlichen, allseitig bedürfnisgerechten Gesellschaftlichkeit umgewandelt werden kann.

Dass auf dem Wege (zu) einer solchen Aufhebung allerdings Menschen gegen Menschen kämpfen, Aggressionen und ihre organisierte Bewältigung in den komplizierten Klassenkämpfen gegen diejenigen Charaktermasken und Exekutoren (wie die deutschen NS-Faschisten und postNSdeutschen Herrschaftseliten), welche die kapitalistische Produktionsweise mit allen Mitteln gegen die communistische Revolution verteidigen, notgedrungen auch zur physischen, gewaltsamen Beseitigung von Personen führen muss, die sich in den »Formationen bewaffneter Menschen« (F.ENGELS) des Staatsgewaltmonopols der kapitalistischen Bürgergesellschaft exponiert haben, ist eine völlig andere Frage und hat mit der Rassifizierung irgendeiner Menschengruppe absolut nichts zu tun, bekämpft diese rassistische Fetischisierung im Gegenteil prinzipiell radikal als Kriterium für »Revolution«. (MARX stellt, offenbar hinsichtlich des Hangs der menschlichen Dummheit zu einer personifizierenden Lesart Böses ahnend, gleich im ersten Vorwort zu seiner »Kritik der politischen Ökonomie« ein für allemal klar, was zum realen Problem der Charaktermasken zu sagen ist (MEW 23,S.16):

»Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. ABER es handelt sich hier um PERSONEN NUR, SOWEIT SIE DIE PERSONIFIKATION ÖKONOMISCHER KATEGORIEN SIND, TRÄGER VON BESTIMMTEN KLASSENVERHÄLTNISSEN UND INTERESSEN. WENIGER ALS JEDER ANDERE KANN mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen GESELLSCHAFTSFORMATION ALS EINEN NATURGESCHICHTLICHEN PROZESS auffasst, DEN EINZELNEN VERANTWORTLICH MACHEN FÜR VERHÄLTNISSE, DEREN GESCHÖPF ER SOZIAL BLEIBT, so sehr er sich auch subjektiv über sich erheben mag.«

Ein mögliches Missverständnis, auf das wir heute in der interessierten Zunft der staatlich bezahlten AS-ForscherInnen häufiger treffen, ist freilich genau das: diese MARXsche historisch-materialistische Kategorie der »Personifikation« sei selber »struktureller Antisemitismus«, zeichne er doch auf »aggressive« und »abwertende« Weise die »Gestalten von Kapitalist« usw. nicht gerade in rosigem Licht ... So bürdet der vulgärwissenschaftliche Unverstand auch hier als beliebte Methode der »Argumentation« dem historisch-materialistischen Gegner stets »auch noch die eigene Dummheit auf« (MARX). Leider auch in der gegenwärtigen Linken ein stereotyper Reflex.)

Nicht in der politischen Ökonomie, aber in der Sphäre der Moralität spielt dagegen die Kategorie der SCHULD die zentrale, beherrschende Rolle. Beide Sphären -- ebenso wie alle anderen Sphären der Gesellschaft -- sind nur analytisch zu trennen, das Nichtidentische zwischen ihnen ist in der Identität des Alltagslebens fürs Alltagsbewusstsein nicht wahrnehmbar und darf aus alltags-, überlebenspraktischem Grund auch nur sehr intuitiv vermittelt zur Geltung kommen. Deshalb ist ja gerade die Alltagsreligion der Bewusstseinsmodus, in dem frisch-fröhlich-mörderisch die empirisch wahrnehmbare Eigenart von Menschen in ihrer jeweiligen Besonderheit (die überhaupt keine Wertung an sich zulässt sondern einfach so ist wie sie ist) ständig mit irgendwelchen moralisch-normativen Werturteilen verknüpft, verschmolzen und kurzgeschlossen wird, dabei noch von den »Furien der kleinlichst gehässigen Leidenschaften« (MARX) aufgeladen und vom klassenmäßigen Interesse blind gesteuert sich ausagiert (Ranküne, Ressentiment, Idiosynkrasien ...).

Beim SEKUNDÄREN ANTISEMITISMUS tritt dieser Zusammenhang besonders empfindlich hervor. Den Juden wird die Schuld (zurück)gegeben, dass sie einem Schuldgefühle »machen« (»Auschwitz wird ihnen nicht verziehen«) ... Bei der allseitigen Schuld(um)verteilung und Schuld-weg/zuweisung unter deutschen Rechten wie Linken (»die Reise nach Jerusalem«!) scheint die kritische Moral und moralisierende Kritik die einzige und ausschliessliche Ebene auch für die theoretische Analyse des AS zu sein. Sie hat die ökonomiekritische, historisch-politische und jede andere wissenschaftliche Annäherung gleichsam gefressen und dem »kategorischen Imperativ« von »Entschuldung« und Schuldspruch unterworfen, der die vorläufige Suspension unmittelbarer moralischer Wertung und politischer Interessensausfechtung, eine Suspension, die für wissenschaftlich-theoretisches Denken gerade kennzeichnend und unabdingbar ist, als schlechthin »positivistisch« diskriminiert.

Die Waffe der Kritik soll sich gewissermaßen unmittelbar im ersten Ansatz selbst in die Kritik der Waffen verwandelt haben, noch bevor sie sich überhaupt entfalten kann (den Unsinn dieses Unmittelbarismus führt z.B. in der »Praxis« das Fahnenschwenken von wegen »Waffen für Israel« vor, das die selbstauferlegte Strafe für die eigene Theorie-Ächtung ist. ADORNO zu dieser Pseudopraxis (in: »Resignation«):

»Wer nur denkt, sich selbst herausnimmt, sei schwach, feige, virtuell ein Verräter. Das feindselige Cliché des Intellektuellen wirkt, ohne dass sie es merkten, tief hinein in die Gruppe jener Oppositionellen, die ihrerseits als Intellektuelle beschimpft werden. Von denkenden Aktionisten wird geantwortet: (..) Gerade um der Herrschaft der praktischen Leute und des praktischen Ideals ledig zu werden, bedürfe es der Praxis. Nur wird daraus fix ein Denkverbot. (...) Man klammert sich an Aktionen um der Unmöglichkeit der Aktion willen. (...) Pseudorealität (...) ist, als subjektives Verhalten, Pseudo-Aktivität zugeordnet, Tun, das sich überspielt und der eigenen Publicity zuliebe anheizt, ohne sich einzugestehen, in welchem Maße es der Ersatzbefriedigung dient, sich zum Selbstzweck erhebt. Eingesperrte möchten verzweifelt heraus. In solchen Situationen denkt man nicht mehr, oder unter fiktiven Voraussetzungen. (...) Einen Ausweg könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muss, und die deshalb nicht der Sache weiterhelfen sondern unweigerlich in Taktik ausarten. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenzen zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen.Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht.«

Die Schmälerung der »Antisemitismus«-Bekämpfung durch ihre Verbannung in die Sphäre der Moralität, die den Bann der gesellschaftlichen Totalität nicht durchbrechen kann sondern ihn noch verstärkt, kommt nicht über die Umstülpung, Umpolung, Konversion des alltagsreligiösen Glaubens des »Antisemitismus« in den alltagsreligösen Glauben des »Philosemitismus« hinaus, was zwar immerhin ein Fortschritt innerhalb der bürgerlichen Polarität von der politischen/apolitischen Rechten zur politischen/anti-politischen Linken ist und zugleich ein Fortschreiten von der unmenschlichen Amoralität/Unmoral der rassistischen Barbarei zur mehr oder weniger menschlichen Moral der bürgerlichen Zivilisation, aber noch immer keine Kritik und Aufhebung der religiösen Verkehrung und Entfremdung selbst: weigert sich doch auch die »philosemitisch« argumentierende moralisierende Kritik / kritisierende Moral ebenso wie die politische Taktik »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« -- so richtig sie in ihrer Sphäre, der Moralität und der Politik, mit dieser Devise handeln --, noch die zugrundeliegenden materiell-ökonomischen Produktionsverhältnisse konkret infragezustellen und radikal zu kritisieren, als Basis der Alltagsreligionsformen anzutasten (-- das leistet auch die angeklebte leerbleibende Abstraktion »für den kommunismus!« noch lange nicht, im Gegenteil: diese wird auch noch zum »negativ- theologischen« Bestandteil des gesellschaftlichen Banns gemacht).

Die historisch-materialistische Kritik muss also der moralischen Ebene des Kampfes gegen den AS ihr selbstverständliches Recht geben, ohne sich auf diese zu beschränken, d.h. ohne sich im Bann der Schuld- Verschiebung gefangenhalten zu lassen. Sie muss sich in allen Sphären der historischen Gesellschaftstotalität bewegen lernen und die Sphären allererst theoretisch auseinanderhalten, um sie jeweils nach ihren Eigengesetzlichkeiten immanent auszuhebeln und durch diese Widerspruchsdialektik aufzuheben (das bedeutet die Kritik von Ökonomie und Ideologie: wie Staatlichkeit/Recht/Politik, Ethik/ Moralität, Ästhetik etc.) als Auifhebung dieser Sphärentrennungen überhaupt in ein nicht mehr religiös entfremdetes Alltagsleben: (MEW 23,S.94):

»Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster planmäßiger Kontrolle steht.«

Wo also der Text eines heutigen Marxisten es wagt, auf diesem moralisch-politisch verminten Gelände neu an die Frage der Entwicklung und Bedeutung der historischen Herkunft des Judentums, d.h. der historisch- empirischen Juden selber heranzutreten, weil »das Judentum eine fundamentale gesellschaftliche Frage nach Herkunft und Substanz in sich trägt«, nehmen wir diesen Versuch als willkommen auf angesichts der Rarität solcher Ansätze, zumal wenn sie von Laien aus unseren Reihen kommen, die wir weder FachhistorikerInnen noch reputierliche »Antisemitismus«-Experten der Zunft sind sondern Menschen, in der Regel lohnabhängig in einen aufreibenden und trüben kapitalistischen, meist auch linken politischen Alltag verstrickt, die sich anstrengen, das ebenso komplexe wie explosive Problem des »Antisemitismus« aus eigener theoretischer Kraft zu durchdringen und sich dabei von den »professionellen« VerwalterInnen des Themas nicht weiter abschrecken zu lassen, die uns schon im Ansatz die von MARX datierende historisch-materialistische Methodenführung aus der Hand bzw. dem Kopf schlagen wollen mit dem impliziten oder expliziten Denkverbot, das besagt, beim Antisemitismus zugleich auch nach dem Zusammenhang mit den wirklichen Juden zu fragen sei per schon selber Antisemitismus.

ADORNO, auf den sich diese SpezialistInnen dabei besonders gerne autoritativ zu berufen pflegen, hat eine derartige Verkürzung und Halbierung der Kritik jedenfalls nicht begangen, wenn er ganz richtig die Gefahr hervorhob, die in mechanischer Reduktion (LUKÀCS nannte dasselbe: »naturalistische Fotokopie«) der Vorstellung bzw. des gedanklichen Bildes unmittelbar (unter Verkennung der Verzerrung, Verkehrung, Vermittlungen) auf den wahrgenommenen Gegenstand liegt:

»Wenn der Bürger schon zugibt, dass der Antisemit im Unrecht ist, so will er wenigstens, dass auch das Opfer schuldig sei.« (DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG ,Amsterdam 1947,1968,S.228) Denn »Wahrnehmung ist nur möglich, insofern das Ding schon als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung, wahrgenommen wird. Sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführerischen Kraft der Sinnlichkeit. Subjektives wird von ihr blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die ihrer selbst bewusste Arbeit des Gedankens kann sich diesem Halluzinatorischen wieder entziehen«, die individuelle Anstrengung und kooperative Arbeit des Begriffs.

ADORNO wird auch dadurch nicht zum Konstruktivisten (wie die stillschweigend konstruktivistischen »Adorniten« der Gegenwart es hinstellen möchten), dass er als einer der ersten in der MARXlinie die Manipulationsmacht der kapitalistischen »totalitär« gewordenen staatsmonopolistischen Herrschaft ins grelle Licht gestellt hat, die den Antisemitismus funktional reproduziert, auch wenn dieser sich längst nicht mehr an den realen Besonderheiten der historisch-empirischen Juden sondern nur noch an einem historisch obsoleten Nachbild festmachen kann:

»In solcher Macht bleibt es dem von der Partei gelenkten Zufall überlassen, wohin die verzweifelte Selbsterhaltung [der ichgeschwächten Subjekte bzw. der anpassungsgenötigten Objekte der Apparate] DIE SCHULD an ihrem Schrecken PROJIZIERT. VORBESTIMMT für solche Lenkung SIND DIE JUDEN. Die Zirkulationssphäre, in welcher sie ihre ökonomischen Machtpositionen besaßen, ist im Schwinden begriffen. (...) Jetzt werden die eben erst Emanzipierten den mit dem Staatsapparat verschmolzenen, der Konkurrenz entwachsenen Kapitalmächten ausgeliefert. Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, IHR BILD, ALS DAS DES ÜBERWUNDENEN, TRÄGT DIE ZÜGE, DENEN DIE TOTALITÄRE HERRSCHAFT TODFEIND SEIN MUSS: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhassten machen. Das gelingt ihnen mittels der pathischen Projektion, denn auch Hass führt zur Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung. Er ist das Negativ der Versöhnung.« (S.234)

Auch wenn die hier von F.POLLOCK entlehnte politökonomische Einschätzung falsch ist (die Zirkulationssphäre als solche sei im Schwinden begriffen, die staatsmonopolistischen Kapitalmächte seien »der Konkurrenz entwachsen« usw. -- die Kritik der politischen Ökonomie war nun einmal ADORNOs Stärke nie) und das Theorem vom »integrativen Etatismus« nur immerhin phänomenologisch etwas Wichtiges trifft, so ist doch dafür die Tendenz des modernen Antisemitismus seit dem 20.Jahrhundert mit dem Blick einer historisch-materialistischen analytischen Sozialpsychologie richtungsweisend erfasst: Versöhnung (etymologisch von »Sühne« herkommend, müsste es genau genommen unmissverständlich VerSÜHNUNG heissen -- mithin soviel wie »Ahndung einer Schuld« ! hat also mit dem Schmus einer gefälligen »Vergebung unserer Schuld« nichts zu tun sondern hat alles zu tun mit dem Leitsatz »Nichts vergessen, nichts vergeben!«) hebt entweder die Dichotomie von Opfern und Tätern klassenmäßig-messianisch auf, indem die bisherigen Opfer und Objekte der Ausbeutung und Unterdrückung sich als Proletariat selbst aufheben und damit die bisherigen Täter als Charaktermasken des Kapitals gleich mit, -- das wäre die von MARX in Aussicht gestellte »Negation der Negation« (»Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden exproproiiert.« MEW 23:791). Oder die Negation durchs Kapital selber bleibt ungesühnt und findet ihr katastrophisches »Weiter so« im Negativ der Projektion auf die Juden, die die Opfer selber noch zu Tätern macht: dies kulminierte bisher in der Shoa.

An den Juden wurde von den deutschen Täter-Opfern die Katastrophe des Kapitalismus exekutiert -- als Pseudorevolution --, denn: »Versöhnung ist der höchste Begriff des Judentums und dessen ganzer Sinn die [messianische] Erwartung; der Unfähigkeit zu dieser [bei den deutschen Täter-Opfern] entspringt die paranoische Reaktionsform.« (S.234) Die Frage der VerSÜHNung wurde seitdem aufgeschoben (nie aufgehoben) und die SCHULD (zunächst als »die Zweite Schuld«) kumuliert; damit ist aber zugleich die Gefahr gewachsen -- und wächst tagtäglich -- des Versuchs, sich dieser historischen, moralischen Schuld durch erneute Rück- Zuweisung an die Juden zu entledigen. Diese gesteigerte Tendenz zur »falschen Negation« (statt zur Negation der Negation) lädt die Spannung in der Kritik des Antisemitismus und ihrer Abwehr tagtäglich gefährlicher auf.

Die »Argumentationsfigur« des sekundären AS, wie sie in einem »Antisemitismusstreit« nach dem anderen im Herzland des eliminatorischen AS immer erneut durchbricht als »Die Juden sind schliesslich SELBER SCHULD ...« und darüber zur »moralischen Rehabilitierung« des manifest-antisemitischen Kernsatzes führt »Die Juden sind unser Unglück« (entweder STATT des Kapitalismus oder ALS »der Kapitalismus« etc.), in der Gegenwart »natürlich« festgemacht an der Existenz von Israel samt allem was dieser Staat tut oder lässt (»da brauchen sie sich ja nicht zu wundern ...!«) -- setzt die historisch-materialistische Analyse und Bekämpfung des Antisemitismus der zunehmenden Gefahr einer unfreiwilligen Bedienung solcher »Umschuldungs«-Projektionen aus und fordert uns deshalb eine wissenschaftlich-communistische Sensibilität und Begriffsarbeit, Denkschärfe ab, wie sie vielleicht noch nie so anspruchsvoll gewesen ist.

Vor diesem Hintergrund muss gleich auf eine gravierende Schieflage der Argumentation des marxistischen Versuchs »Über die Herkunft des Judentums« kritisch hingewiesen werden, damit diese offene oder weiche Flanke in der Formulierung und Begründung des ganzen Unternehmens nicht von der communistischen Kritik hier unbemerkt durchgehen kann und dann evtl. als Achillesferse von der hämischen moralisierenden Kritik »anti«-deutscher InquisitorInnen durchschossen werden kann. Denn diese würden bekanntlich am liebsten eine Friedhofsruhe hergestellt sehen, in der sich kein Mensch überhaupt mehr ASkritisch zu äussern wagt (dafür natürlich um so ungehinderter die Antisemiten) und den »philosemitisch« und »radikal« bürgerlich- zivilitätsbellizistisch ins Horn blasenden HexenjägerInnen und Feinden des historischen Materialismus und der communistischen Revolution dann das Monopol auf ihre Sorte hilflosen »Anti-Antisemitismus« überlassen bliebe.

Deshalb folgende konstruktive Kritik vorweg:

Der Autor des Versuchs »Über die Herkunft des Judentums« bringt, wie uns scheint, erst zum Schluss (S.15) seine Begründung für die ganze Untersuchung ebenso klar wie unvermittelt-apodiktisch vor:

Er resümiert, dass S.FREUD in »DER MANN MOSES« schliesslich »die gegensätzlichen Seiten innerhalb des Judentums selbst entwickelt.« und springt dann selber auf eine überhistorische Ebene, indem er unmittelbar vom PENTATEUCH (mit seinen »gegensätzlichen Mose«-Bildern) auf die Genese und sogar die Gegenwart der kapitalistischen Moderne schliesst: »Ich nenne das die Entwicklung des Widerspruchs des Judentums, der eine Fülle weiterer Erscheinungen erklärt.

Wir müssen uns doch mit folgender Frage befassen: wie kommt es, dass im Judentum der höchste Anspruch, Segen aller Völker zu sein, neben dem steht, der die profanste Ausnutzung anderer als 'höchstes' Leitprinzip verkündet. Das Judentum spielt bei der Herausbildung der grundsätzlichsten kulturellen Elemente der westlichen Hemisphäre eine fundamentale Rolle, lässt sich gar nicht wegdenken, und weist andererseits selbst Elemente auf, die auf eine völlige Diffamierung und Verächtlichmachung anderer Nationen hinauslaufen. Das führt auch zur Erfassung der rechten Strömungen, des Antisemitismus, der nur das letztere sich aus dem Judentum herausgreift und nun umgekehrt die Verächtlichmachung des Judentums benutzt, um zugleich die ganze Zivilisation anzugreifen.«

Diese Begründung muss u.E. als ebenso verstiegen wie verfehlt kritisiert werden. Nur auf zwei Abstürze der Gedankenführung wollen wir hier vorerst hinweisen:

Erstens bleibt uns der Autor jeden Beleg für die Behauptung schuldig, dass angeblich »das Judentum ... die profanste Ausnutzung anderer als 'höchstes' Leitprinzip verkündet« (zweimal Superlativ, einmal durch unerläuterte Anführungszeichen relativiert oder eher sarkastisch gefärbt im Sinne der Andeutung, dass es sich in Wirklichkeit um ein »niedrigstes Leitprinzip« handele. Das Wort »profan« hat semantisch die Funktion, die hier behauptete Herabsetzung bzw. Herabwürdigung des religiösen Anspruchs durch die materiell-ökonomische, auch wohl menschlich-psychomentale Praxis oder Umsetzung ins alltäglich-Weltliche nahezulegen). Auf den angeblich »höchsten Anspruch, Segen aller Völker zu sein« wollen wir zunächst nicht eingehen, weil er auf den ersten Blick den Charakter des Judentums als »die Religion der Erhabenheit« (HEGEL) und des Universalismus behauptet und erst auf den zweiten Blick als eine Religion der Überheblichkeit »des auserwählten Volkes« gegenüber allen anderen Völkern, was eher aus dem Kontext dieses Satzes und dieser Argumentation zu schliessen ist, beide (die sublim-«hohe« und die profanierend-niedrige) Kennzeichnungen jedoch in keiner Weise hier ausgewiesen sind. Werden solche Kennzeichnungen aber einfach »vom Himmel hoch« gesetzt, dann geben sie zu dem Verdacht Anlass, dem Stereotypenschatz des judophoben Volksvorurteils entnommen worden zu sein, dem sie jedenfalls , wie sie da so umstandslos hingestellt werden, bereitwillig Vorschub leisten.

Derselben denkerisch und wissenschaftlich unzulässigen Setzung folgt die Behauptung von der angeblichen

»völligen Diffamierung und Verächtlichmachung anderer Nationen« durch »Elemente« im Judentum; wobei das Attribut »völlige« äusserst stark und das bloße »Hinauslaufen« solcher »Elemente« auf die Herabsetzung anderer Nationen (welcher? etwa aller anderen?) abschwächend wirkt. Diese Ausdrucksweise ist nurmehr eine der Andeutungen. »Die angesprochenen Leser werden schon wissen, was gemeint ist.« Bewiesen, belegt, begründet wird hier keine der schwerwiegenden Versicherungen. Der Bruch zwischen dem bis dahin Entwickelten und dem hier plötzlich Behaupteten und Angedeuteten ist auffällig und lässt auf einen bisher unterdrückten Grundgedanken schliessen, welcher hier am Schluss noch unvermittelt zum Durchbruch gelangt.

Zweitens verlässt der Autor mit dieser These brüsk die bisher eingehaltene historisch-materialistische Gedankenführung. »ICH NENNE DAS die Entwicklung DES Widerspruchs DES Judentums«, so wird auf einmal dekretiert. Gegen kühne Thesen ist bei einem essayistischen Versuch historisch-materialistischer oder auch logischer Darstellung überhaupt nichts einzuwenden, wenn sie die Bodenhaftung zum geschichtlich- gesellschaftlichen Stoff nicht verlieren, den sie selber in irgendeiner Herleitung aufbereitet haben oder auf den sie anhand ihrer Literaturverweise sich stützen. Aber hier passiert ein Salto mortale ins Reich der metahistorischen Spekulation, die zwar ein HEGEL noch »plastisch-logisch« verfolgen durfte als idealistischer Geschichtsphilosoph, die aber schon der junge MARX an FEUERBACH als abstrakten Anthropologismus kritisierte und ab da für alle Zeiten durch«nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte« (MEW 3,S.18) überwand.

Gerade die geschichtliche Rekonstruktion der Ursprünge des Judentums hat ja bis dahin der Autor als so brüchig und windig nachgezeichnet, dass nun diese seine Belastung des gesamten, historisch- durchgängig bis auf unsere Gegenwart gefassten »Judentums« als gleichsam religiös-mental schizophrene und für einige oder alle »Nationen« (eine reichlich späte Erscheinung in der Genese »der westlichen Hemisphäre«!) gefährlich feindselige (denn »völlige Diffamierung« usw. bedeutet krasse Feindseligkeit, die sich die feindlich- aggressive diffamierende Nation ja folglich dann auch ihrerseits von ihren Feinden zuziehen muss -- »da braucht sie sich ja nicht zu wundern!«) alles andere als historisch plausibel ist.

Am wenigsten überzeugt und am meisten überrascht dann seine grundstürzende Verkündung: »WIR MÜSSEN UNS DOCH MIT FOLGENDER FRAGE BEFASSEN: WIE KOMMT ES, DASS ...« worauf der Autor sogar das Fragezeichen vergisst, so sicher ist er sich der unumstößlichen, all-einsichtigen Wahrheit seines Dass-Satzes! Die Versicherungen über »DEN Widerspruch DES Judentums«, die bis hin auf die Judenheit der Gegenwart erst einmal historisch zu begründen wären, öffnen stattdessen lediglich der Zustimmung von antisemitischer Seite Tür und Tor. Dies aber war hier nur zu sagen, dass wir uns zumindestens des Verrats am wissenschaftlich-communistischen Methodengang von MARX schuldig machen, wenn wir in der antisemitisch aufgeladenen Situation der Gegenwart die revolutionär-antijudophob motivierte Suche nach dem ZUSAMMENHANG der antisemitischen Alltagsreligion und ihrer Genese MIT DEN JUDEN abrutschen lassen in die rhetorische und ressentiment-motivierte falsche »Frage«, wie es komme, »dass« die Juden ja seit jeher auch selber SCHULD an ihrem und unserem Unglück hätten, »weil« es ja schon alles seit Jahrtausenden in der Bibel und im Talmud stünde ...

Zur Konfrontation mit diesem neueren marxistischen Versuch einer historischen Herleitung der Besonderheit der Juden IM ZUSAMMENHANG mit antisemitischer moderner Barbarei wird hier ein klassischer historisch- materialistischer Versuch zu S.FREUDs »DER MANN MOSES« aus dem Kreis der ins Exil getriebenen westlich- kommunistischen PsychoanalytikerInnen der 1930er Jahre beigestellt. Er soll auch zeigen, dass, wer die revolutionäre Psychoanalyse als bloßes »Wühlen in Mythen« oder gar nur »mythenschöpfendes« Recycling idealistischer Nabelschau-Seelendoktoren abtun will, wie es die STALINistische Konterrevolution zur verbindlichen mechanisch-materialistischen Doktrin erhob (und nicht nur diese gehirnphysiologisch auf Anpassung der Staatsuntertanen ausgerichtete Konditionierungs-Technologie von »Ingenieuren der menschlichen Seele« verdrängte die Psychoanalyse, »die jüdische Wissenschaft« ...), dass der einfach keine Ahnung hat, wie weit die Vermittlungsarbeit der FREUDschen Linken zwischen Gesellschaftsanalyse und Psychologie historisch vorgedrungen war.

Die »Geheimen Rundbriefe des Kreises um OTTO FENICHEL« aus den Jahren 1934 - 1946 sind erst seit 1998 zugänglich und nicht vielen bislang bekannt; ihre Nutzung für eine emanzipatorische »Grundlagenforschung« im Erkenntnisinteresse einer schon von MARX postulierten Psychologie, die »zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden« könnte (MEW Erg.Bd I:543), wenn »gerade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte« von ihr »unter der Form der Entfremdung« im modernen kapitalistischen Alltagsleben, Arbeitsleben, Alltagsbewusstsein und in den individuellen und gesellschaftlich-kulturellen Träumen analysiert werden kann, soll mit diesem -- den meisten auch heute schwer zugänglichen -- Text angeregt werden. Zu lernen ist vor allem auch von der methodologischen Vorsicht und dem historisch-materialistischen Problembewusstsein des wohl bedeutendsten Kopfes bisheriger wissenschaftlich-communistischer Psychoanalyse.

Übrigens hat seit einiger Zeit auch in der psychoanalytischen Zunft der bürgerlichen Anpassungstechnik frischer Wind für Unruhe gesorgt: einige neue Deutungen und historische Rekonstruktionsversuche zu FREUDs »DER MANN MOSES werfen auf neuem wissenschaftlichen Niveau die alte aufregende Frage nach der Psychoanalyse als »die jüdische Wissenschaft?« und damit nach dem gesellschaftlichen Ort und Unruhefaktor des Judentums, der Analyse und Bekämpfung des »Antisemitismus« und der Möglichkeiten der Psychoanalyse als emanzipatorischer Theorie und Praxis auf. Wir zitieren hier nur JAN ASSMANN aus dem Januar-Heft 2004 der Zeitschrift PSYCHE (S.1):

»Vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren entbrannten Diskussion um FREUDs letztes Buch DER MANN MOSES UND DIE MONOTHEISTISCHE RELIGION -- angestoßen bzw.geführt, unter anderen, von GRUBRICH- SEMITIS, YERUSHALMI, DERRIDA, BERNSTEIN, dem Autor selbst [=J.ASSMANN] --, in der es neben der höchst umstrittenen Frage des »jüdischen Charakters« der Psychoanalyse vor allem auch um Tradition und Tradierung unbewusster Erfahrungen, also das Verhältnis von Phylo- und Ontogenese geht, entfaltet der Autor [hier in seiner Arbeit SIGMUND FREUD UND DAS KULTURELLE GEDÄCHTNIS] zunächst seine These vom 'kulturellen Gedächtnis' als blindem Fleck in FREUDs Denken .(...) Seit ungefähr 20 Jahren erleben wir die wachsende Macht der Vergangenheit und spüren, wie sie uns einholt, heimsucht und sich zu einem Mythos, einer fundierenden Geschichte von gar nicht abzusehender Tragweite aufbaut. (...)

Nach jahrzehntelanger Latenzphase, so scheint es, kehrt das Verdrängte wieder und zwingt die Welt in seinen Bann. Vielleicht hat uns dieser Prozess empfänglich gemacht für die Pathologien der kollektiven Erinnerung und insbesondere für das Buch, aus dem diese Begriffe stammen: Trauma, Verdrängung, Latenz und eine die Massen in ihren Bann zwingende Wiederkehr des Verdrängten, ein Buch, das seinerseits, so scheint es, eine gut 50jährige Latenzphase durchgemacht hat und seit Ende der 80er Jahre, genau gleichzeitig mit der mächtigen und massenhaften Wiederkehr der Erinnerung an Auschwitz, ein ganz einzigartiges Comeback erlebt. Ich meine FREUDs letztes vollendetes Buch, DER MANN MOSES ... In diesem Buch unternimmt es FREUD, seine auf der Ebene der Individualpsychologie entwickelte Neurosentheorie auf die Massenpsychologie anzuwenden. Die Geschichte des Monotheismus, so meint FREUD, kann man nur verstehen im Lichte dieser Analogie.« Seine Untersuchung der FREUDschen psycho-historischen Re-Konstruktion von 1939 schliesst der Professor 2004 mit dem Blick auf »den deutschen Fall«:

»Unbestreitbar haben wir es hier [im deutschen Fall] mit einer Pathologie des kulturellen Gedächtnisses zu tun, die ja schon früh die Psychoanalytiker auf den Plan gerufen und zu einer Analogisierung von Individual- und Massenpsychologie eingeladen hat. (...) Die Macht der Vergangenheit und die Eruptionen der Erinnerungsgeschichte haben in Deutschland Psychoanalyse, Geschichtswissenschaft und Kulturtheorie einander näher gebracht, als sie zu FREUDs Zeit waren. Nicht die Religionsgeschichte, aber die jüngere deutsche Erinnerungsgeschichte liefert das Material für eine psychoanalytisch informierte Kulturtheorie, die mit der Möglichkeit von Verdrängung, Latenz und Wiederkehr des Verdrängten auf gesellschaftlicher Ebene rechnet.« (S.22)

Da S.FREUD die psychische Wurzel des Judenhasses ebenso wie des Bewusstseins/Unbewussten der Juden in ihrer historisch-religiös-kulturell-psychomentalen Identität entscheidend an ihrem rituellen Gesetz der Beschneidung des männlichen Säuglings und dem Beschnittensein des Mannes festmacht, damit zusammenhängend, aber davon auch unabhängig zu sehen, mit ihrer besonders hohen Kultur der Sublimierung als mosaischer »Vater«-Religion, steht damit auch heute wieder erneut die Frage einer symbolischen »Kastration«, des damit verbundenen Körperbildes und Selbstbildes sowie die judophobe negative Spiegelung des Juden als »des Kastrierten«, des »nicht richtigen Mannes«, zugleich mit dem Neid auf den Juden als dem »Reinen«, dem Vaterkonformen usw. -- alles Theoreme und Erklärungsansätze, die FREUD von dieser Wurzel hergeleitet hat, -- im Brennpunkt des Streits. Dieser hat sich in der Zunft der Psychoanalytiker jetzt vor allem aufs heftigste neu entzündet an dem ebenso vielseitigen wie kühnen Buch von FRANZ MACIEJEWSKI: PSYCHOANALYTISCHES ARCHIV UND JÜDISCHES GEDÄCHTNIS. FREUD, BESCHNEIDUNG UND MONOTHEISMUS (Wien 2002)

Bei all diesen -- z.T. wissenschaftlich halsbrecherischen -- Versuchen um die von FREUDs Buch angerissenen Probleme der Besonderheit des Judentums und ihres ZUSAMMENHANGS MIT dem »Antisemitismus« liegt seit jeher bei den Psychoanalytikern, die sich diesem Komplex überhaupt zu stellen wagen, die Gefahr im Kurzschliessen von individueller Psychologie, Massenpsychologie und den Bewegungsgesetzen der modernen Gesellschaft.

Wir stehen nicht ab zu sagen: der gewöhnliche, BÜRGERLICHE Psychoanalytiker MUSS bei diesem Methodenproblem, blind wie er gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftlichkeit und dem Gesellschaftsindividuum als ENSEMBLE DER GESELLSCHFTLICHEN VERHÄLTNISSE nun einmal zwangsläufig ist, unweigerlich sogleich abstürzen: in die PSYCHOLOGISIERUNG des Antisemitismus, in die VERKENNUNG der kapitalistischen Alltagsreligion.

Die VERMITTLUNGEN zwischen Psyche und Gesellschaft/Geschichte können und werden dem bürgerlich bornierten Psychoanalytiker aus dem Stand NICHT gelingen, weil er trotz seiner wissenschaftlich so wertvollen Forschung AM »PATIENTENMATERIAL« letztinstanzlich eben nur die Anpassung an die Gesetze der erweiterten Reproduktion des Kapitals, der Lohnsklaverei, der bürgerlichen Familie und der Familie überhaupt, der Geschlechterrollen, die sie hervorbringt und festsetzt, kurz: DER HERRSCHENDEN NORMALIÄT / NORMALITÄT DER HERRSCHENDEN ideologisch als den UNÜBERSCHREITBAREN HORIZONT für »Gesundheit«/«Krankheit« der von eben dieser Gesellschaftsordnung Beschädigten vor Augen hat.

OTTO FENICHEL (1897-1946) steht für diejenige Entwicklung der Psychoanalyse, die bewusst -- mit dem Ethos des wissenschaftlichen Communismus -- diesen bürgerlich-«robinsonadenhaften« Horizont überschreitet, die Bornierung der angepassten, medizinalisierten, ideologisierten Psychoanalytikerzunft durchbricht.

Sein Problembewusstsein in den Fragen der Methode liess ihn WIE BIS HEUTE KEINEN ANDEREN psychoanalytischen Theoretiker einen permanenten MEHRFRONTENKAMPF führen: gegen den Psychologismus wie gegen den Soziologismus, gegen den Biologismus/Naturalismus wie gegen den Konstruktivismus -- FÜR DEN »UTRAQUISMUS« (utraque = latein.: »sowohl als auch«) und das dialektische TERTIUM DATUR (»gegebenes Drittes / drittes Gegebenes«) DER JEWEILS KONKRETEN BESONDERHEIT! Als historischer MATERIALIST aber MUSSTE er Verteidiger der FREUDschen Essentials sein: allererst der naturwissenschaftlichen Grundlage der TRIEBTHEORIE ..., und notfalls (wie in der »Todestrieb«-Frage) gegen FREUD selbst. Diese unbestechliche Kritikfähigkeit gegenüber FREUD, den er »nach aussen« wie kaum ein anderer aus der »zweiten Generation der Psychoanalyse« verteidigte, wird auch in seiner Besprechung des »MANN MOSES« für den internen Kreis der sozialistischen PsychoanalytikerInnen deutlich.

Der FENICHEL-KREIS bestand aus -- meist weiblichen -- Exilierten, vor allem in USA, die aus NS-Deutschland wegen ihrer jüdischen Herkunft und/oder sozialistischen bzw. kommunistischen Gesinnung/Arbeit flüchten mussten bzw. dort nicht weiter in der Psychoanalytischen Vereinigung arbeiten konnten, weil diese sich in die NS-«Göring-Gesellschaft« auflösen liess, nachdem sie zuvor selber ihre jüdischen Mitglieder ausgeschlossen hatte. Zur Kennzeichnung des FENICHEL-KREISES, der nun im Exil -- zusammengehalten durch die GEHEIMEn RUNDBRIEFE, als deren Korrespondenzbüro O.FENICHEL fungierte (1934 bis 1945), -- sich über die psychoanalytischen, politischen, sozialen, gesellschaftskritischen Fragen jener furchtbaren Jahre verständigte, zitieren wir hier aus dem Standardwerk »DIE VERDRÄNGUNG DER PSYCHOANALYSE -- ODER: DER TRIUMPH DES KONFORMISMUS (1983, dt.1985) von RUSSELL JACOBY:

»Zweifellos haben die jüngeren Analytiker und Lehranalysanden Texte von Autoren der zweiten Generation [der Ps.a.] gelesen und sich vor allem an den Werken von O.FENICHEL, EDITH JACOBSOHN und ANNIE REICH orientiert. Deren Schriften gelten nach wie vor als wegweisend. (...) Und neben FREUDs Werken taucht wohl kaum ein Buch so oft im psychoanalytischen Unterricht auf wie FENICHELs PSYCHOANALYTISCHE NEUROSENLEHRE -- es ist zu einem Standardwerk über die Theorie der klassischen Psychoanalyse geworden(...) Es lassen diese Texte freilich nicht erkennen, dass FENICHEL, JACOBSOHN und ANNIE REICH nicht nur hervorragende Theoretiker und Kliniker waren, sondern radikale Verfechter gesellschaftlichen Wandels, die ihr Leben nach ihren Überzeugungen ausrichteten. Und viele Angehörige ihrer Generation teilten ihr Engagement. Dennoch hat die psychoanalytische Konzeption nicht einmal in der Erinnerung die Barbarei des Nationalsozialismus überdauert. Die psychoanalytischen Texte blieben erhalten, doch der Geist und der kritische Impuls, der sie beflügelt hatte, verflüchtigten sich.« (S.21f)

»Die wichtigsten Schriften von FENICHEL, JACOBSOHN oder ANNIE REICH sind greifbar. Ihre Beiträge zur Psychoanalyse scheinen (ohne dass ein Schatten auf sie fiele) solide und klar. Man kann (...) mit ihnen arbeiten. Doch wie gerade Psychoanalytiker wissen sollten, liegt das Vertraute nicht ausserhalb der Geschichte, sondern ist von Vergangenheit durchtränkt. Vertraut gemacht worden ist es, indem das Fremde und vielleicht gar Verbotene an ihm ausgelöscht worden ist. In diesem Sinne werden auch Psychoanalytiker akzeptabel, nachdem ihre nicht akzeptable Vergangenheit einer Zensur unterworfen worden ist. Kurz gesagt, Leben und Arbeit FENICHELs und einer großen Zahl weiterer politisch orientierter Analytiker sind (,...) immunisiert und geschönt worden.« (S.24)

»Das Exil und der Konservativismus des psychoanalytischen Establishments zwangen den Radikalismus FENICHELs und einer ganzen Gruppe von Analytikern in den Untergrund. Eine Generation später war diese Vergangenheit sprachlos gemacht.«(S.29)

»FENICHEL und 6 weitere Analytiker stellten den Kern der Gruppe dar -- er, EDITH JACOBSOHN und ANNIE REICH waren die bekanntesten von ihnen; KATE FRIEDLÄNDER, hat in England einen Namen; BARBARA LANTOS, EDITH GYÖMRÖI und GEORGE GERÖ waren weniger bekannt (Vermutlich gehörte auch BERTA BORNSTEIN der Gruppe an.) [Ebenso anfangs noch WILHELM REICH, den der FENICHELkreis gegen die Intriganten und das Kesseltreiben in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung verteidigte -- Anmerkung PC]«(S.42)

Zur Prägung dieser GenerationsgenossInnen: »Die Mitglieder von FENICHELs Gruppe waren etwa 20 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg und die darauf folgenden Revolutionen das 19.Jahrhundert definitiv beendeten (...) und ganz Europa bebte von revolutionären Hoffnungen; in Deutschland und Österreich bildeten von der Front heimgekehrte Arbeiter und Soldaten autonome und selbstverwaltete Räte.

Während der folgenden Wochen und Monate wurden 'Sowjetrepubliken' in Budapest und München proklamiert. Die SPARTAKISTEN riefen zur Revolte in Berlin auf. (...) Diese Ereignisse hatten eine nachhaltige Wirkung auf das Leben FENICHELS und seiner Freunde. Er, ANNIE REICH und EDITH JACOBSOHN engagierten sich in der sozialistisch bestimmten jüdischen Jugendbewegung, die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts in Deutschland und Österreich eine bedeutende Rolle spielte; BARBARA LANTOS , GYÖRGYI GERÖ und EDITH GYÖMRÖI bewegten sich in Budapest in den studentischen Zirkeln um GYÖRGYI LUKÁCS und KARL MANNHEIM (...) In den Jahren zwischen 1915 und 1920 engagierten sie sich auf der Linken in der Jugendbewegung oder in der Studentenpolitik. In den frühen zwanziger Jahren schlossen sie ihr Medizinstudium und ihre analytische Ausbildung ab und begannen dann zu praktizieren (...) in den späten zwanziger Jahren jedoch (...) betraten sie wieder das Feld der Politik; gleichzeitig vertieften sie sich in das Projekt einer gesellschaftstheoretisch begründeten Psychoanalyse. (...)

Bis zum Jahre 1930 hatten sich sämtliche Mitglieder des Kreises um FENICHEL in Berlin niedergelassen; einige von ihnen traten der Kommunistischen Partei bei. Es entstand eine Vielzahl linksstehender analytischer Gruppierungen. 1933, als Hitler zur Macht gelangte, war es damit vorbei. Marxistische Psychoanalytiker, die zudem noch Juden waren, waren dreifach stigmatisiert -- als Juden, als Marxisten und als Psychoanalytiker -(...) FENICHEL floh nach Oslo, nach Prag und dann nach NewYork. (...) JACOBSOHN hielt sich eine Weile in Deutschland auf [sie arbeitete in der KPD im Untergrund -- Anmerk.PC] und wurde verhaftet; später floh sie nach NewYork.«(S.42-45) »FENICHEL kam in NewYork als Einwanderer an, reiste quer durch den Kontinent und liess sich dann in LosAngeles nieder. (...)

FENICHEL repräsentierte vorzüglich jene Kultur des jüdischen Wiener Bürgertums der Jahrhundertwende, die der Welt so viel gegeben hat. (...) Die Disziplin und der Eifer der Generation FENICHELs sind heute kaum noch vorstellbar; sie nahm das Gebot und die Chance der Bildung überaus ernst. (...) In Geldangelegenheiten war er großzügig; Bekannte und Verwandte wurden, wenn es nottat, von ihm ohne Zögern unterstützt. (...) Kennzeichnend für seine Seminare war die intensive Konzentration auf die Texte. (...) Er nahm niemals ein Blatt vor den Mund und war niemandem erbötig. Daher glaubten viele, er sei streitsüchtig und intolerant. Doch sein kritischer Geist war durch und durch demokratisch. Er hörte jedem zu, und seine Seminare standen jedem offen. Unverhohlen äusserte er auch FREUD und älteren Analytikern gegenüber abweichende Meinungen. Und er war weder nachtragend noch undifferenziert in der Ablehnung. Obwohl er beispielsweise die theoretischen Arbeiten und den Einfluss von SÁNDOR RADÓ und FRANZ ALEXANDER bekämpfte, die er beide 'schrecklich' fand, nahm er gelegentlich Aufsätze von ihnen achtsam wohlwollend zur Kenntnis. Aus seinen RUNDBRIEFEN lässt sich erschliessen, dass FREUD und die Wiener Analytiker großen Respekt vor ihm hatten, ihn sogar fürchteten.« (S.50-54)

Soviel über die geistige Physiognomie eines der bedeutendsten Genossen der revolutionären Psychoanalyse und communistischen Antisemitismus-Analyse, die uns heute -- wir hoffen: nur vorübergehend -- verschüttet ist.

Zur Prägung des jungen FENICHEL schildert RUSSELL JACOBY noch erhellend:

1920 in Wien, als er sich äusserst kämpferisch mit SEXUALFRAGEN IN DER JUGENDBEWEGUNG (so derTitel seines nie veröffentlichten damaligen Manuskripts) beschäftigte, der er auf dem radikalen linken Flügel angehörte, »rezensierte er ausführlich ein Buch zur Sexualethik, das sich an jüngere Juden wandte und für eine drakonische Sexualmoral der Reinheit, Askese und Keuschheit im Namen der jüdischen Tradition plädierte.

FENICHEL kritisierte das Buch in Grund und Boden. Der scharfe Ton, den er anschlug, veranlasste den Herausgeber der Zeitschrift zu der redaktionellen Bemerkung, man sei in diesem Falle von der üblichen Praxis, Besprechungen nicht von direkt Betroffenen zu erbitten, abgewichen, da es der Redaktion [der »Zeitschrift für Sexualwissenschaft«Nr.6/1920] wünschenswert erschienen sei, ein Mitglied der jüdischen Jugendbewegung zu Wort kommen zu lassen. 'Im Namen unserer Freundinnen, im Namen des Judentums und im Namen des Geistes', schrieb FENICHEL in der Rezension, 'protestieren wir aus tiefster Seele gegen die Gleichstellung von Prostitution und vorehelichem Geschlechtsverkehr.'

Die in dem Buch empfohlene Askese begünstige notwendig neurotische Einstellungen, ja sie werde gerade jenen kulturellen Vorstellungen zum Schaden gereichen, die sein Autor zu fördern trachte. 'Wir sind jüdische Jugend. Und wir können es weder als jüdisch noch als jugendlich ansehen, uns irgendwelchen Autoritäten blind, nur weil es Autoritäten sind, zu unterwerfen. (...) Keine Tradition mehr gilt uns als heilig! (...) Wir wollen NICHT sein, was unsere Väter waren, sondern das, was noch nie gewesen ist. 'Jüdisch' sind uns nicht Ghettositten und nicht einmal Sitten des alten Erez Israel, jüdisch ist uns der Kern unserer eigenen Seele in uns, jüdisch ist uns keine Vergangenheit, sondern alle Zukunft!' FENICHEL schloss seine Besprechung mit dem Hinweis, dass die wenigen Sätze über Sexualethik in SIEGFRIED BERNFELDs 'DAS JÜDISCHE VOLK UND SEINE JUGEND' unvergleichlich gründlicher, jüdischer und jugendlicher seien als das ganze von ihm rezensierte Buch.

Die 'jüdische Frage' war, in der Tat, ein ebenso wichtiges wie beunruhigendes Thema der Jugendbewegung in Deutschland und Österreich. Deren -- oft verblasene -- Naturmetaphysik und Deutschtümelei kippten immer wieder um in bösartigen, aggressiven Nationalismus und Antisemitismus. Das Wiederaufleben des Antisemitismus nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner bewog BERNFELD zur Gründung einer Vereinigten Jüdischen Jugend in Wien. (...) Er gründete ferner eine neue Zeitschrift, 'Jerubbaal', sowie eine jüdische Jugendorganisation, den 'Orden Jerubbaal' (...); es war der 'Schlachtruf' jener Jugend, die sich einer 'Sache' verschrieben hatte.

In seinem Einleitungsaufsatz erklärte BERNFELD, die Zeitschrift wolle die jüdischen Jugendlichen ermutigen, ihre eigentümlichen Werte zu erkennen, zumal die jüdischen Erwachsenen nichts anderes im Sinn hätten, als ihre Kinder zu vollkommenen Bourgeois zu erziehen, während gleichzeitig die Nichtjuden unaufhörlich die Juden verfolgten und beleidigten. (...) Unklar ist, ob FENICHEL dem 'Orden Jerubbaal' angehörte; er war jedoch zweifellos Mitglied einer Nachfolgeorganisation und Mitarbeiter der Zeitschrift. (...)[Darin] wandte er sich auch gegen ein konventionelles und akademisches Verständnis von Sozialismus. (...) Entscheidende Themen, die nachmals Marxisten wie GEORG LUKÁCS und KARL KORSCH beschäftigten, hat der radikale Teil der Jugendbewegung vorweg formuliert: Politische Veränderung, sofern sie nicht auch die menschlichen und kulturellen Beziehungen ergreift, bleibt blind und leer. Und: Die Änderung dieser Beziehungen kann nicht bis zum Sieg der sozialistischen Revolution vertagt werden.(...) In einer Passage (...) [einer einer Buchrezension des jungen FENICHEL vom Oktober 1919] ist FENICHELs Position kurz und bündig dargelegt. Obwohl in ihr MARX nicht zitiert wird, scheint sie dessen Prinzipien zu entsprechen. Sie fasst die Erfahrungen der Jugendbewegung anschaulich zusammen.

Der junge MARX hatte geschrieben: 'Radikal sein ist: die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.« Und MARX fuhr fort, die Kritik der Religion müsse notwendig zum Umsturz der Verhältnisse führen, die den Menschen erniedrigen. [MEW 1:385. R.JACOBY stellt das arg einsinnig-verkürzt dar! Diese »Notwendigkeit« gibt es bei MARX im Original gar nicht. -- Anmerkung P C] Monate nach der Niederlage der Revolution in Deutschland und 75 Jahre nach den Bemerkungen von MARX modifizierte FENICHEL deren Akzent. (...) 'Keine Revolution ändert etwas am Wesen, solange sie nur die Institutionen ändert und nicht auch die Menschen, die in diesen Institutionen leben sollen. Sind diese Funktion jener, so doch auch jene dieser! Die Weltänderung sei radikal, sie greife an den Wurzeln an. Die Wurzel ist der Mensch. Die Änderung des Menschen ist die Erziehung. So ist uns der Weg gegeben.' » (S.75-83)

Dieser Weg aber führte den leidenschaftlichen wissenschaftlichen Lehrer OTTO FENICHEL keinesfalls zur Illusion und Komplizenschaft mit dem staatssozialistischen Modell des STALINismus, TROTSKIsmus oder sonstigem »Staat als Volkserzieher« mit DER »Partei als Erzieherin des Proletariats«. FENICHEL ist im Rückblick aufs 20.Jahrhundert vielmehr dem Westlichen Communismus zuzurechnen, wo dieser sich -- wiederum in einer gewissen Parallelführung mit der jüdischen Entwicklung unmittelbar vor und nach der Shoa, einer Entwicklung, die auf das Leitthema der SÄKULARISIERUNG DES MESSIANISMUS führen würde (siehe WALTER BENJAMIN) -- auch innerhalb der »Frankfurter Schule« und des »Institute of Social Research« artikulierte, der FENICHEL in den USA nahestand.

Über das gemeinsame kritische Anliegen mit FENICHEL, der als »der Enzyklopädist der Psychoanalyse« in Europa und den USA galt und einer der strengsten Verfechter wissenschaftlicher »Redlichkeit« in seinem fast unüberschaubaren Beitrag zur revolutionären Vermittlung von Therapie und Forschung am konkreten Fall des psychisch beschädigten Individuums mit gesellschaftskritischer Analyse für die Umwälzung der bisherigen Gesellschaftsordnung war, äusserte sich HORKHEIMER 1944 so:

»Obwohl das Problem des Antisemitismus als ein soziales Phänomen äusserst wichtig ist, haben Soziologie und Philosophie noch nicht viel zu seiner Lösung beigetragen. Bezeichnenderweise gibt es im Bereich der Soziologie oder der Sozialphilosophie keine Untersuchung, die mit der erhellenden Diskussion in FREUDs MOSES oder mit den psychoanalytischen Aufsätzen zum Antisemitismus, wie etwa denjenigen von FENICHEL, vergleichbar wäre.«

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